Der Pyramide höchster Punkt

An mondhellen Nächten geschah es, an verwunschenen Orten und wenn wir verträumt der sinkenden Sonne hinterherblickten. Es passierte aber auch ebenso zwischen Tür und Angel, beim Einkaufen, beim Unkraut jäten oder einfach beim Binden des gelösten Schnürsenkels. Wenn das Außen in seinen wirbeligen Bewegungen einen Moment zur Ruhe kam, dann war Raum für einen Gedanken über unsere Empfindungen, die uns so schnell hin und her zogen, als seien wir ein kleiner Handwagen, der ständig im Weg stand.

So hielt ich beim Schnitzen einen Moment inne. Ich genoss den Geruch der Tanne. Kleine Harzkügelchen bildeten sich, obwohl das Holz schon länger trocknete. Mit der zähen Masse zwischen den Fingern zeigte sich materialisierende Realität. Mein Auge konnte es sehen, meine Nase riechen und meine Hände spüren. Ohne Zweifel präsentierte sich deutlich und klar eine Tatsache.

Mein Blick fiel auf den aufheizenden Brandmalkolben. Es war ein ganz einfaches Gerät mit mehreren Aufsätzen. Seitdem ich festgestellt hatte, dass ich die Madenschraube für einen Wechsel der Spitze nur lockern musste und nicht heraus drehen, fand ich ihn rundum super. Auf alle Fälle eine Erweiterung meines Werkzeugkastens. Ohne nachzudenken, tippte ich gut gelaunt mit dem Finger kurz auf die Mitte des Gerätes. Es war ein verspieltes ich-freue-mich-auf-dich und gleichzeitig ein unbedarftes Werfen eines ersten Dominosteines.

Das gute Stück verlor sein Gleichgewicht, denn es lag auf einem kleinen Stehdraht und das Elektrokabel war schwerer als das Gerät selbst. Dies fragile Konstrukt kippte nun nach hinten, rollte zum Rand und fokussierte für einen kleinen Moment den Anflug zum Boden. Um Murphys Gesetz keinen Raum zu geben, nahm ich diese Chance spontan wahr, warf mein Messer zur Seite und griff mit beiden Händen zu, um den Brennkolben nicht auf meinen Holzboden fallen zu lassen.

Ein kleiner Stupser veränderte meine Wirklichkeit, veränderte die folgende Minute mit seiner Eigenart und veränderte dadurch auch ganz offensichtlich mein nachfolgendes Tun. Ohne es zu wollen, ging ich einen anderen Weg; erst unscheinbar, kaum bemerkbar und anscheinend unerheblich anders. Doch jeder weiß, eine Weiche, war eine Weiche, sie leitete um, um eine Weiterfahrt ohne Halt zu ermöglichen.

Ein Strom von Gedanken durchflutete mich. Von null auf hundert schimpfte ich mit mir selbst:

Musste ich dauernd alles anfassen? Konnte ich mich nicht einmal einfach fokussieren, auf das, was ich tat? Jetzt hatte ich mich verbrannt und mein scharfes Messer steckte im Fußboden! Da wollte ich Schlimmes vermeiden und fabrizierte noch mehr. Oh man, sogar auf jeder Hand eine Brandblase! Aber ich hab den Kolben gefangen! Das zeugt eindeutig von einem klasse Reaktionsvermögen! Alles ist gut. Ich hab die Situation gerettet!

Meine Emotionen umwickelten mich. Ich war aufgebracht. Ein totales Gedanken-los-sein brachte mich in ein äußeres Chaos. Es drehte sich, nahm Anlauf und fabrizierte ein weiteres Chaos, diesmal in mir. Mit einer Platte lässt sich so Tischtennis spielen. Reaktionen folgten auf neuen Reaktionen. Es ließe sich aber auch sagen: Ein Angebot für eine Empfindung folgt dem nächsten.

Was ist, wenn ich das Angebot nicht annehme? Was ist, wenn ich die reagierende Emotion weglasse? Es ergab sich dann etwas Neutrales wie Fakten und Überlegungen. Also:

Habe ich mich überhaupt auf meine Arbeit konzentriert? Jetzt hab ich mich verbrannt und der Boden hat eine Kerbe, aber ich fing den Kolben! Alles ist gut. Die Situation ist gerettet!

So konnte ich die Sachlage betrachten, sie überschauen, sie war klar. Sie war nun so, dass ich mir selbst meinen Fokus heraussuchen konnte, ohne durcheinander zu sein. Ich konnte wählen. Und ich wählte:

Alles ist gut.

Photo by Louis Vanleer on Unsplash

Fokussiert zu leben, zu wissen, welche Aktivitäten, Menschen oder auch Dinge genau für mich richtig sind, empfinde ich als unheimlich schwierig. Als emotionaler Mensch reagiere ich als erstes emotional, ganz spontan. Solche Empfindungen machten das Leben ziemlich bunt, aber sie verhängten auch jegliche Klarheit; manchmal mit dunklem Rauch und manchmal mit hellem Glitzern.

Klarheit ist etwas Wundervolles. Es ist eine Eigenschaft des Ichs, die sich kultivieren lässt. Mit ihr können wir sehen, ob wir von unserem Fokus entfernt sind. Je nach Typ bedarf die Umsetzung mehr oder weniger Energie. Außerdem brauchten wir Übung, um nicht immer sofort auf ein Außen emotional zu reagieren.

Eines wußte ich ganz genau: Jede Energie, die wir investieren, die bleibt. Wir spüren sie, denn wir fühlen uns dann richtig gut.

Nun habe ich zwei fast verheilte Brandblasen, aber hey, ich hab den Kolben gefangen!