Das Auge der Mitte

Jetzt stand ich also da und betrachtete den Stab. Langsam sollte ich mal anfangen! Mit der ausgestreckten Hand hielt ich meinen Jo quer vor meinen Körper und konzentrierte mich auf eine Erinnerung; auf ein Video, das ich soeben auf dem Handy gesehen hatte. Ohne eine einzige Bewegung eilten meine Gedanken von Punkt zu Punkt, sprangen vor und zurück, um dann doch wieder mittendrin zu beginnen. Im Dojo übernahmen Lehrer das Führen, das Korrigieren; sie retteten die Schüler aus verknoteten Gedanken, gleich dem Einsammeln von Schiffbrüchigen auf hoher See; leider ging dies jetzt nicht …

Hatte ich denn nicht richtig zugesehen? Warum war dies für mich so schwer greifbar? Ich seufzte und redete gleichzeitig beruhigend auf mich selbst ein: Das wird schon! Es geht jetzt erst einmal um die ersten sechs Sequenzen. Also ganz locker. Das ist übersichtlich und braucht keine 14 Sekunden! Trotzdem! Anscheinend zupften meine Erinnerungen an den gesehenen Informationen herum, zerlegten sie in Kleinstteile, schüttelten diese für die gute Durchmischung und präsentierten es mir dann ganz stolz als das Ergebnis der Betrachtung.

Mein Blick fiel auf meinen vor mir liegenden Hund, der aus einer sicheren Distanz abwartend zuschaute. Das sah nach einer Menge Skepsis aus; vielleicht sah ich auch nur das, was ich selbst empfand. Was sah ich überhaupt? Anscheinend nicht so viel, sonst könnte ich doch die wenigen Bewegungen in null Komma nichts umsetzen!

Warum wollte ich überhaupt die Kata lernen? Ging es mir darum, sie einfach zu können? Ging es darum, sagen zu können, hier schau, ich kann das, gleich einem Seepferdchen auf dem Badeanzug? Nein, das war es eindeutig nicht, das wusste ich. Ich wollte für mich ganz allein lernen, selbst wenn es niemals irgendjemand sehen würde. Jedes zusätzliches Wissen in dieser Kampfkunst, jedes sichere Verstehen fühlte sich einfach toll an und hinterließ kleine Sterne in mir, die nicht aufhörten zu leuchten. Denn das Universum war unendlich und ich war davon überzeugt, dass alle Dinge der Welt diese Unendlichkeit in sich trugen und jedes Erforschen in die Tiefen der uns geschenkten Energien führte genau auf diesen Pfad.

Solch eine festgelegte Abfolge von Techniken stellte sich im ersten Moment als sehr fix und starr dar, augenscheinlich bestand kein Bezug zur Realität. Ein Angreifer im freien Feld würde sich ganz bestimmt nicht an die Reihenfolge halten wollen. Solch eine Kata besaß einen anderen Sinn: sie demonstrierte verschiedene Ausführungen aus unterschiedlichen Positionen. Wer sie beherrschte, besaß ein größeres Repertoire an möglichen Bewegungen mit der Waffe; dies Wissen gravierte sich förmlich ins Innerste und mein Körper las ab, wenn er es brauchte.

Ich senkte meine Hand. Das funktionierte so nicht! Keine fünf Minuten vorher hatte ich mir alles angeschaut. Jetzt stand ich da und erinnerte lediglich die ersten drei Bewegungen, da sich meine Gedanken nicht nur am Ablauf orientierten, sondern sich gleichzeitig mit tausend Kleinigkeiten beschäftigten!

Warum nahm ich die Kata mit dem Betrachten des Videos nicht wahr? Wie bitte schön, sollte ich denn lernen? Jetzt musste ich grinsen, denn die Antwort dazu fiel mir sofort ein: Ich fasste alles an, um es erfassen zu können, selbst die Marmorsäulen der Akropolis waren nicht sicher vor mir, obwohl Schilder mich ermahnten und ein Wachmann keine zwei Meter entfernt aufpasste; ich fasste an, damit ich sah! Ok, das war nun nicht möglich, also wie dann? … Ich erlas mir auch gern die Dinge! Worte besaßen für mich eine klare Struktur …

Eine Viertelstunde später versuchte ich es erneut. Ein selbst gebastelter Laufzettel mit minimalen Informationen über die ersten sechs Bewegungen hing nun, netterweise von meinem Kirschbaum gehalten, in meinem Sichtfeld. Na, geht doch! Mit einer schriftlichen Vorgabe konnte ich mich fokussieren und die Abfolge wiederholen.

Zufrieden mit mir selbst setzte ich mich später zu meinem Hund, trank einen Kaffee und blickte ins Grüne. Erst wenn ich etwas in den Kreis meiner Aufmerksamkeit ziehen konnte, ließ es sich für mich ergreifen und bearbeiten. Doch dafür musste ich mich selbst kennen; ich musste wissen, wie dies Heranziehen für mich funktionierte! Ich konnte die Welt nur durch einen bestimmten Weg erfassen, der mir es erst ermöglichte, sie überhaupt zu sehen. Übersprang ich diesen Schritt, so bliebe mir das Äußere dubios irgendwo und irgendwie am Rand meines Bewusstseins hängen und wäre damit unerreichbar verloren.

Wenn ich darauf verzichtete mich selbst kennenzulernen, dann verzichtete ich auf die Erfahrungen und Geschenke der Welt; ich käme nie an, um das wunderbar Mannigfaltige zu genießen.

So wählen wir selbst …

Lampion, Jo, Kirschbaum und Laufzettel bis Nr. 12 von 31 …