Precious and pure

Zufrieden, aber auch körperlich redlich erschöpft, öffnete ich nach den zweieinhalb Stunden Training die Tür zum alten Treppenhaus. Überrascht rannte ich fast in ein Pärchen hinein, die gerade die Stufen herauf kamen. Die Räumlichkeiten des Dojos gehörten zu einem alten Fabrikgelände mit solider Bauart und hohen Decken. Viele unterschiedliche Künste belebten das Haus mit ihrem Flair: Unter gemeinsamem Dach wurde Tango getanzt, Arien gesungen, Klavier gespielt und natürlich Kampfkunst betrieben.

Ich fragte nun den jungen Mann, der mir zuerst entgegenkam, ob er ins Dojo wolle. Er schüttelte den Kopf und erkundigte sich im Gegenzuge, ob der Unterricht vorbei wäre, damit sie niemanden stören würden. Wieso stören? Er erzählte, dass sie den Aufgang für ihren Gesang nutzten. Er sei Tenor und sie Sopranistin. Durch die richtig dicken Wände, die einstmals eventuelle Explosionen nach oben ableiten sollten, bekam der Schall wunderbare Möglichkeiten zur Resonanz, den sie beide sehr schätzten.

Wow! Auf die Idee musste man erst einmal kommen! So zeigte mein Gegenüber auf meine Waffentasche und fragte mich, was ich denn mit mir tragen würde. Ich öffnete sie und gab ihn meinen Bokken. Begeistert hob und senkte er das Schwert; suchte die Balance und ließ es geschmeidig mit seinem Eigengewicht fallen. Ich stand jemanden gegenüber, der sich in den Kleinigkeiten des Momentes verlieren konnte und sich die Ruhe nahm, dies auch zu genießen.

Er reichte mir das Schwert zurück und nahm ebenso eine längliche Tasche vom Rücken, die mir erst jetzt auffiel. Er scherzte, dass er seine Waffe auch herumtrug und öffnete diese ebenfalls, um mir den Inhalt zu zeigen. Der Musiker nahm eine lange Querflöte aus dickeren Bambus heraus, die ihre eigene Bemalung besaß und sehr besonders aussah. Begeistert betrachtete ich dieses wunderbare Instrument, ohne es zu berühren. Er legte die Tasche beiseite, drehte die Flöte und ließ seine Hände über das Holz gleiten. Seine Sinne lagen voll und ganz dort; als er seinen Kopf wieder hob, schloss er seine Augen und begann einfach hier im Mittendrin zwischen Tür und Angel zu spielen.

Erstaunt holte ich Luft und lehnte mich auf den Treppen stehend an die Wand. Tiefe Flötentöne erklangen, weiteten sich und erfüllten die Luft, als umarme sie uns hier Befindlichen mit viel Wärme. Ich schloss ebenso meine Augen und ließ die Musik auf mich wirken. Es war nur noch ein Hören. Klar und deutlich, standen die Töne einen Moment in der Luft und schwebten schließlich in die Höhe. Jeder einzelne Ton vibrierte in meinem Zwerchfell und fand dadurch seinen Widerhall in mir selbst. Es gab nichts anderes mehr, nur noch Musik, die uns umwob und trug …

Als ich das Treppenhaus verließ, schaute ich in den Himmel. Das helle Blau verwandelte sich langsam in ein tieferes. Das Universum zeigte auf seine Art die Bewegungsströme und damit sein Da-Sein. So manches fiel einfach vom Himmel.

Danke!


Anm. z. Bild: Photo by Ryan Searle on Unsplash

Anm. z. Titel: In Anlehnung an eine Szene aus dem zweiten Hobbit-Film („The Desolation of Smaug“). Dort erzählte eine Elbin einem Zwerg von dem Sternenlicht, das sie sich anschaute, wenn sie des Nachts das Universum betrachtete. Sie beschrieb es als „Precious and pure“. Eine kostbare Erinnerung an etwas, was vor Urzeiten entstand und jetzt in Erscheinung trat.

In meinen Augen sind Momente wie an diesem Abend ebenso. Sie erinnerten uns, wie überreich sich Leben nur ganz allein für uns offenbarte.