Die Laterne des Grafen

Ein hölzerner Unterstand mit einem kleinen spitzen dunkelgrünen Dach ergab sich als der höchste Punkt im sichtbaren Umkreis. Das Handy lag sicher in der Küche der Ferienwohnung neben der Steckdose, frönte der Völlerei und fiel mir beim Losfahren dadurch nicht mehr ins Auge; so konnten sich auch moderne Menschen schlagartig in die Steinzeit zurückversetzt fühlen. Selbst eines der alten Münztelefone schien hier in der Mitte vom Nirgendwo nicht mehr zu existieren.

Der Schottland-Prospekt versprach mir vor einigen Monaten unglaubliche Landschaften, eigenwillige Menschen und Überraschendes in jeglicher Hinsicht. Ich bekam alles! Heute Morgen um fünf stand ich bereits auf, um mit Fahrrad, Rucksack, Regenjacke und Reiseproviant eine von mir geplante Rundtour von ca. siebzig Kilometern anzugehen. Um acht Uhr bemerkte ich das Fehlen meines Handys, nahm es tapfer zur Kenntnis; um zehn Uhr ließ ich mir in einer kleinen Bäckerei meinen ersten Kaffee schmecken und aß dazu zwei wundervolle Croissants; um zwei Uhr zerknitterte ich die Tüte meines letzten belegten Brotes und um vier Uhr musste ich zugeben, dass ich mich eindeutig verfahren habe.

Die Sonne stach schon den ganzen Tag. In meinem Nacken brannte der zwei Zentimeter breite Rand zwischen T-Shirt und zusammen gebundenen Haaren. Ich brauchte unbedingt Schatten, Wasser und eine längere Pause! Ich konnte nicht mehr. Erschöpft ließ ich mich auf die alte Holzbank plumpsen, die anscheinend auf mich wartete und betrachtete mit müden Augen die Landschaft. Überrascht stand ich doch wieder auf und ging aus dem Unterstand heraus, um das abfallende Land hinter diesem Hügel besser betrachten zu können.

Vor mir breitete sich eine unendlich grüne, wellige Ebene aus. Ein deutscher Golfplatz hätte keinen schöneren Rasen besitzen können! Sattes Grün umfloss ein altes dunkelrotes Herrenhaus im Stile der vorletzten Jahrhundertwende. Gekonnt fanden sich einzelne Baumgruppen drapiert, als hätte ein Künstler einige Tupfer symmetrisch im Verhältnis zu der Form des Hauses gesetzt und diese mit geschwungenen Wegen verbunden. Von hier oben erschien mir das Gebäude wie eine Sonne, deren Strahlen durch ein Drehen gleichmäßig geschmeidige Bögen zogen.

Nun sah ich auch, dass von diesem Unterstand ebenso ein Weg direkt zum Haus führte. Es waren keine Stufen, sondern alte kleine Granitsteine mit einem kunstvollen Muster verlegt. Als Rahmung verlief eine Art schmale Rinne auf beiden Seiten entlang; vielleicht gab es hier viel Regen.

Erleichtert über die ersten Zeichen von einer orientierenden Zivilisation nahm ich schnell mein Fahrrad an die Seite und ging umherschauend zum Haus herunter. Hier lebte jemand, der sein Land liebte und all das mit Farben und Formen zum Ausdruck brachte.

Die alte Türglocke ließ sich nur durch einen mechanischen Zug betätigen. Ich lächelte. Wie hätte es anders sein können! Modernes schien hier überhaupt nicht zu passen und hätte den Gesamteindruck gestört. Nichts geschah. Oh bitte! Lass den Eigentümer zuhause sein! Meine Erschöpfung steigerte sich ein klein wenig in Verzweiflung. Ich legte mein Ohr an die Eichentür und versuchte irgendein Geräusch zu erhaschen.

Ein Räuspern ließ mich fast einen Hopser zur Seite springen. Unbewusst legte ich meine Hand ans Herz und holte tief Luft. Ein kleiner älterer Herr stand keinen Meter links von mir. Er musste unendlich leise um die Hausecke gekommen sein, sodass ich ihn während meines Horchens an der Tür nicht bemerkte. Im zweiten Moment lief ich etwas rot an, da er mich in einem nicht damenhaften Tun erwischte. Der ernste Gesichtsausdruck meines Gegenübers vertiefte mein Unwohlsein und ich beeilte mich, schnell den Grund meines Hier-Seins zu erklären. Der Haus-Eigentümer schaute mich stirnrunzelnd an.

„Sie werden hier in meinem Hause leider kein Telefon finden. Das nächste besitzt mein Nachbar, der einige Kilometer entfernt wohnt.“

Überrascht über sein Deutsch, sprudelte alles aus mir heraus. Als hätte jemand auf einen Knopf gedrückt, fühlte ich mich gleich ein kleines Stück nicht mehr so fremd. Nun völlig ins Bild gesetzt, betrachtete mich mein Gegenüber und lächelte zum ersten Mal.

„Auch wenn es fast unlauter erscheint: Seien sie doch für heute mein Gast. Mein Gästezimmer ist annehmbar und ich verspreche ihnen, dass sie nicht um ihr Leben fürchten müssen. Morgen früh können Sie dann frisch gestärkt mit einer Karte ihren Weg wieder zurückfinden. Mein Auto bedarf noch eines Reifenwechsels, sonst hätte ich sie gern gefahren und mit dem Fahrrad befürchte ich, wäre dies Pensum doch ein wenig zu viel für Sie.“

Etwas überrascht über dies Angebot, sperrte sich im ersten Moment alles in mir. Ich kannte diesen Mann überhaupt nicht! Graues Haar war ganz bestimmt kein Indiz für Harmlosigkeit. Psychopaten wurden auch älter! Ich betrachtete nun mein Gegenüber etwas genauer und hielt seinen Blick stand. Schließlich war auch klar, welche Bedenken ich haben konnte. Tausend Lachfältchen schienen sich immer mehr um seine Augen herum auszubreiten. Ich seufzte, denn ich wusste nur zu genau, dass meine Entscheidung schon längst getroffen war. Ich kannte mich schließlich etwas länger.

Mein Fahrrad fand einen Platz hinter dem Haus und als hätte er bereits einen Gast erwartet, stand würzig duftender Tee auf einem kleinen Tischchen in einer Art Vorraum. Die sehr hohe Decke führte bis unters Dach und ließ helles Sonnenlicht herein. Dankbar setzte ich mich und wir kamen ins Gespräch.

So erfuhr ich, dass er Sohn eines englischen Grafen sei, der während der Kriegszeiten in Deutschland seine zukünftige Frau kennenlernte und dann gemeinsam sich mit ihr hier in Schottland ein Zuhause aufbaute. Er selbst war Landschaftskünstler und Inhaber einer Destille, deren erfolgreiche Produktion eines ganz besonderen Whiskys die Welt beglückte. Dieses Landgut bewohnte er nur am Wochenende. Insofern war es großes Glück meinerseits, dass ich gerade heute vorbei kam.

Er, Finley Wright, schaute mich über seine Teetasse an.

„Ich glaube, ich zeige ihnen mal das Gästezimmer.“

Dankbar nickte ich. Nach dem heißen Tee konnte ich kaum meine Augen offen halten. Ein kleines Zimmer im ersten Stock mit Bücherbord, Sitzecke und einem schmalen Bett an der Seite sah richtig gemütlich aus und gefiel mir sofort. Nachdem er mir noch das Bad auf dem Flur zeigte, nickte er nur und versprach mich, zum Abendbrot zu wecken.

Einen kleinen Moment blieb ich auf dem Bett sitzen und schaute aus dem Fenster. Ich vertraute blindlings einem absolut fremden Menschen! Ich schaute zur Tür. Ein Schlüssel! Aufatmend hechtete ich fast dorthin und verschloss. Wenn er nun einen weiteren besaß? Ich sah mich um. Der schwere Sessel von der Sitzecke! So schob ich noch das schwere Ding unter die Türklinke und fühlte mich damit wesentlich besser. Ich zog nur meine Schuhe aus und ließ mich rückwärts auf das Bett fallen. Einen kleinen Moment spürte ich noch den Sonnenbrand in meinem Nacken, doch dann versank ich in einem wohligen Entspannen.

Entferntes Rufen weckte mich. Als ich die Augen öffnete, sah ich nur ein wenig Mondschein durch das Fenster fallen, ansonsten war es dunkel. Das Rufen kam von der Tür. Oh, ich hatte verschlafen! Ein Blick auf meine Armbanduhr belehrte mich aber eines Besseren. Es war elf Uhr nachts!

„Wollen sie denn nicht wach werden? Es ist Samstagabend und wir sitzen mit den Nachbarn noch draußen ein wenig zusammen. Ich würde mich sehr freuen, wenn sie mich begleiten würden. Die Nacht ist schön!“

„Ich komme gleich!“ Einen Moment stand ich vor meiner verschlossenen Tür und biss mir auf die Unterlippe. Ach was! Entweder oder! Ich hatte mich vorhin bereits entschieden ihm zu vertrauen.

In der Eingangshalle stand er lächelnd mit mehreren Decken bewaffnet und einen gepackten Rollwagen bereit.

„Hier, für sie!“ , sagte er und drückte mir eine belegte Stulle in die Hand. „Vorhin brauchten sie eher Schlaf als Essen; das dürfte nun anders sein.“ Augenzwinkernd bekam ich noch eine große bequeme flauschige Jacke um die Schultern gelegt. Er löschte die Lichter des Hauses und dann gingen wir in die Nacht hinaus.

Mein erster Blick fiel in Richtung des Unterstandes. Verblüfft blieb ich stehen. Fast der ganze Hügel schien mit Menschen gefüllt zu sein, die auf Decken saßen und eigene Laternen dabei hatten. Als Mr. Wright von seinen Nachbarn erzählte, konnte ich mir gerade zwei, drei Personen vorstellen, die eventuell auf benachbarten Grundstücken wohnen würden. Was ich hier sah, war fast ein halbes Dorf! Begeistert lachte ich meinen Gastgeber an. Der Hügel sah aus, als wären tausend Glühwürmchen zu Besuch und hätten sich dort zum Ausruhen niedergelassen. Wirklich beeindruckend!

Je weiter wir dem Weg zum Hügel folgten, umso intensiver wurden die Sterne. Es gab keinen Zentimeter über uns, der nicht leuchtete! Oben angekommen, schallten uns Rufe entgegen und Mr. Wright winkte lächelnd in die Runde. Zu mir gewandt meinte er schließlich:

„Wären sie so nett und würden mir helfen, meinen Gästen das Mitgebrachte zum Anstoßen einzuschenken?“

Er schlug eine Decke von seinem kleinen Ziehwagen zurück und zeigte damit dessen Inhalt. Zwei große Tonkrüge und bestimmt zwanzig Flaschen von seinem anscheinend selbst gebrannten Whisky reihten sich in aller Ordentlichkeit nebeneinander. Nickend machte ich mich an die Arbeit.

Obwohl ich nur einschenken musste, kam ich nicht so schnell voran, wie ich anfänglich dachte. Fast jedem musste ich die Hände schütteln und meine kleine Geschichte erzählen. Endlich waren alle versorgt und ich stand wieder unter dem Unterstand. Mr. Wright wandte sich zu seinen Nachbarn und hob das Glas.

„Ich begrüße euch. Lasst uns anstoßen!“ Einen kleinen Moment hielt er inne und schluckte den guten Whisky in einem Zug herunter. Die Menschen auf dem Hügel standen auf und taten es ihm nach. Dann gerieten alle in Bewegung. Neugierig schaute ich was passierte. Mein Gastgeber nahm die beiden Krüge aus den kleinen Wagen und drückte sie zwei jungen Männern in die Hand, die anscheinend wussten, was geschehen würde.

„Kommen sie!“

Er nahm meinen Arm und zog mich zum Beginn des herabfallenden Weges. Die beiden Männer öffneten die Krüge und gossen deren Inhalt in die seitlichen Rinnen. Es war Öl! Sie gossen Öl in die Rinnen! Mr. Wright drückte mir Streichhölzer in die Hand und wandte sich wieder zu den wartenden Menschen:

„Heute habe ich die Ehre, gemeinsam mit meinem Überraschungsgast, das Fest zu beginnen! Auch wenn wir unterschiedliche Wurzeln besitzen oder Sprachen sprechen, so leben wir unter einem Himmel! Egal, wofür wir uns entscheiden, wir wählen immer, sei es ein Tun oder Nicht-Tun! Ich für meinen Teil feiere viel zu gern und wähle deshalb ein Beisammensein mit euch!“

Er zündete ein langes Streichholz an und ich tat es ihm nach. Gleichzeitig hielten wir die Flamme an den Beginn der Rillen. Mit einer unglaublichen Schnelligkeit breitete sich das Feuer auf dem herunterlaufenden Öl aus, bis es schließlich am Kreuzpunkt kurz vor dem Haus abbog und bei den jeweiligen kleinen Baumgruppen landete. Dort entflammte sich als Schlusspunkt eine Standfackel. Währenddessen nahm mein Gastgeber eine kleine Fernbedienung aus der Jacke und mit einem zufriedenen Gesicht betätigte er den Auslöser. Starke Strahler unterhalb des Vorraum-Daches des Hauses, in dem ich heute meinen Tee trank, erleuchteten den Himmel.

Sprachlos starrte ich auf das, was ich sah. Vor mir brannte eine Feuer-Sonne inmitten der dunklen Landschaft! Mein Gastgeber lächelte mich an und drückte mir noch eine kleine orangene Laterne in die Hand.

„Deswegen sind sie alle hier. Die ist für sie und ihren Wunsch!“ Irritiert schaute ich ihn kurz an und schaute dann zu den anderen. All die übrigen schienen ebenso kleine orangen Himmels-Laternen zu besitzen und waren gerade dabei die Lichter zu entzünden.

Mein Gastgeber nahm seine eigene Laterne, entzündete sie und hielt sich als erster in den Himmel und rief:

„Together“

Und als käme eine Antwort aus der Nacht, riefen alle übrigen mit einer Stimme ihre Antwort:

„Together!“

Und so stiegen unzählige orange-gelbe Funken langsam in den Himmel.

Mein Wunsch war nicht besonders, er war nicht außergewöhnlich, er war nur ganz einfach: Genau dies sollte immer und immer wieder geschehen.

Was es war?

LEBEN!


Anm. z. Bild: Photo by Candré Mandawe on Unsplash

Anm. z. Titel:

In Anlehnung an die leuchtende Laterne des Paul Revere am 18. April 1775, der mit dem Licht während der amerikanischen Revolution ein Signal an Charlestown aussandte. Sie wussten damit, ob die britische Armee per Land oder mit Booten käme. One if by land, and two if by sea.

Signale sind optische oder akustische Zeichen mit einer Bedeutung.

Wie die Laterne, so erinnerte auch die Sonne in der Nacht daran, dass auch in Dunkelheit Zeichen gesetzt werden können, die letztendlich zu Taten wurden. Wir mussten nur handeln.