Kichernd standen wir schon fertig angezogen an den sperrangelweit geöffneten Fenstern. Die Kühle des Tages erfasste den Raum und trotzdem wollten wir hier unbedingt stehen. Große Sonnenflecken beheizten mit aller Kraft die Stoffmatten. Die wohltuende Wärme entspannte die Fußsohlen gleich einem heißen dampfenden Solebad im Freien.
So vermengte sich der erste Eindruck auf der Matte mit dem Kommenden und in meinen Erinnerungen erschien es mir wie ein roter Faden, der sich durch die Stunden schlängelte und einfach blieb.
Während der ersten Übungen verharrte meine Hand auf der meines Gegenübers. Die Aufgabe lag nun darin, trotz der Bewegungen den inneren Kontakt nicht abreißen zu lassen. Dieser konnte sich blitzschnell aufbauen: Er lief von der Hand zum Arm, zur Schulter und Körper bis er eindeutig das Zentrum in meinem Bauch fand. Diese Empfindung des gemeinsamen Da-Seins und einer hundertprozentigen Aufmerksamkeit für die derzeitige und kommende Bewegung meines Trainingspartners, gehörte in meinen Augen zu dem Außergewöhnlichen und sehr Intensivem, das die Kampfkunst vermittelte.
Abwartend betrachtete ich meine Trainingspartnerin. Völlig versunken horchte sie in sich hinein, um den eigenen Schwerpunkt mit der inneren Achse bewusst wahrzunehmen. Zu jeder Zeit im Lot zu sein war eine große Herausforderung. Egal, welche Bewegung wir ausführten, welche Technik uns in den Sinn kam und mit welchem Impuls wir konfrontiert wurden, es galt die gefühlte Verschraubung mit dem Erdboden aufrecht zu erhalten. Die Welt konnte dann kommen. Der Grund auf dem wir standen, blieb somit stabil.
Matthias ließ uns zur Verdeutlichung jeweils das Kippen der Achse unseres Gegenübers mit leichtem Händedruck verstärken. Immer dann, wenn ein Aikidoka seine Achse neigte, z. B. bei einem Schritt, weil er einen Fuß vom Boden lösen musste, dann bedurfte es nur einer winzigen Einwirkung, um das ganze System des Körpers von außen kippen zu können; die gesuchte Schwachstelle in einem Kampf! Mit dem minutiösen Beobachten erschien das Prinzip völlig klar. Doch wann schauten wir wirklich so genau hin? Wann griffen wir sozusagen in einen Handlungsfaden hinein und betrachteten das, was ihn ausmachte? Darum ging es heute. Wir wollten ganz genau hinschauen. Wer eine klare Vorstellung der Prinzipien besaß, konnte fast blind handeln.
Zufrieden mit sich selbst nahm meine Trainingspartnerin den Angriff auf und führte mich mit einer Technik zu Boden. Ihre Ausrichtung und Konzentration lag in Gänze bei mir und gleich einem geworfenen Ball traf mich diese, sodass mir nichts anderes blieb, als ihren Bewegungen zu folgen. Zudem glich sie sehr genau immer wieder die Distanz zwischen uns beiden aus. Wäre sie mir zu nah, dann beschnitt sie sich selbst in ihrem Bewegungsraum; war sie zu fern, dann verlor sie das Lot ihrer Achse. Unsere Trainer wiesen immer wieder darauf hin, dass wir uns die Zeit nehmen sollten, genau diese Details bei unserem Tun in einem ruhigen Innehalten zu überprüfen.
Als ich selbst inmitten einer Übung die drei Prinzipien bewusst umsetzte, erschien mir das Verteidigen gleich einem Betrachten von innen heraus. War es dann noch wichtig, wie und mit welcher Technik Aikido seine Anwendung fand? Sei es weich oder hart, sei es mit großen Bewegungen oder kleinen oder sei es rein technisch gesehen oder mit einer riesigen Portion Philosophie … mit den Prinzipien gab es einen Faden, der den Aikidoka führen konnte und ihn sicher auf seinem Weg begleitete; ein Herzstück als Fundament, das alles Weitere für den Handelnden in jeglicher Form zuließ.
Dies bedeutete auf keinen Fall, dass die Techniken wie Schall und Rauch im Winde verwehten! Vielleicht würde uns ohne sie etwas intuitiv einfallen, um einen Angreifer zu Boden zu bringen. Doch die uns gelehrten Bewegungsabläufe besaßen eine direkte Effektivität mit einer nicht übersehbaren Eleganz. Jeder Aikidoka kannte diese Art von Wohlgefühl, das mit den spiralförmigen Bewegungen einherging.
Wenn wir uns selbst die Freiheit gaben, unser Handeln nicht in eine ganz bestimmte Form zu zwingen, dann gab es unzählige Möglichkeiten, wie sich eine Reaktion auf einen Angriff entwickeln konnte. Vielleicht reihten sich sogar mehrere Techniken hintereinander oder vielleicht übernahm der Angreifer die Position eines Verteidigers …
Für diese Freiheit benötigten wir aber wiederum die Techniken, die uns durch die Vielfalt der Möglichkeiten einen Spielraum boten.
„Form“ und „Freiheit“ ergaben gemeinsam etwas Ganzes, das kein Festhalten an einen bestimmten Ablauf brauchte. Es gab dann nicht mehr die richtige Technik oder der richtige Stil! Es gab dann nur ein Herzstück, das jeden in seiner Art beließ, wie er war, und uns trotzdem alle unter einem Dach zusammenführte.
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Trainer: Matthias Lange, 5. Dan und Julia Wagner, 4. Dan in dem Wochenend-Seminar „Form und Freiheit“
Trainingsort: https://aikidozentrum.com/
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Anm. z. Titelbild:
The triangle represents the generation of energy and initiative, it is the most stable physical posture.
The circle symbolises unification, serenety and perfection; it is he sorce of unlimited techniques.
The square stands for form and solidity; the basis of applied control.
Morihei Ushiba