Das Werk der Kunst

Wie bitte schön sollte ich die Stabilität in meinem Zentrum behalten, wenn mich jemand seitlich zu Boden schleuderte? Es fühlte sich an, als stünde ich wieder im Gerangel auf dem Spielplatz, der zur Austestung der Fliehkräfte besonders gut geeignet war. Doch ich befand mich im Dojo auf weichen Matten (was ich dem Sandboden eindeutig vorzog) oder besser gesagt: Ich lag nun auf ihnen. Etwas unzufrieden mit mir selbst holte ich kurz Luft, stand auf und griff erneut an.

Die Technik der Stunde (Irimi-nage) gehörte zu den Basistechniken[1], die mit großen fließenden Bewegungen ausgeführt nicht nur wunderschön aussah, sondern effektiv den Angriff umleitete. Weltweit gesehen, gab es für jede Technik unterschiedliche Varianten, doch ein erfahrener Betrachter konnte aufgrund einer bestimmten Eigenart sogleich erkennen, was er vor sich hatte. Es ließ sich mit der Malerei vergleichen. Wenn wir im Museum die Werke alten Meister betrachteten, brauchten wir oftmals nicht unsere Brille vor holen, um das winzige Namens-Schildchen zu lesen. Jeder erkannte sofort einen Dali oder Van Gogh oder Hundertwasser.

Als Matthias uns beim Aufwärmen eine neue Übung zeigte, war mir im ersten Moment noch nicht klar, dass diese einen Bewegungsabschnitt innerhalb einer Technik darstellte:

Auf Zehenspitzen stehend gingen wir geöffnet in die Hocke, um schließlich zur Seite auf den Unterarm zu fallen; dabei durften die beiden Knie nicht wieder zusammenklappen. Unweigerlich drängte sich bei mir die Figur eines Pappkäfers in den Sinn, der seitlich balancierte. Aus dieser Position heraus sollte sich dann anschließend der gesamte Körper in einem Stück so drehen, dass das obere Bein schwungvoll mit dem Fuß aufsetzte und der Übende sich wieder in den Stand bringen konnte. Ich musste zugeben, mein gedanklicher Pappkäfer schien es einfacher zu haben, als ich selbst. Diese Übung gehörte nicht zu meinem täglichen Bewegungsrepertoire.

Die Sequenz sollte dem Angreifer helfen, nach einem schwungvollen Zu-Boden-geführt-werden, wieder schnell auf den eigenen Füßen zu stehen. Als unser Lehrer die korrekte Ausführung demonstrierte, sah es so einfach aus! Wie an einem Faden einer Marionette geführt, schwang er ebenfalls –je nach Impuls des Partners- seitlich zu Boden, drehte sich und stand sogleich parat für den nächsten Angriff. Die Leichtigkeit des Seins spiegelte sich in jeder Varianten wieder: Sei es, dass er sich nur mit der Hand am Boden abstützen musste oder auf der Seite lag.

Zuerst probierte ich es mit Kraft. Das Ergebnis wirkte beim neutralen Beobachter mit Sicherheit nicht mehr ganz so vernichtend, doch ich selbst steuerte in gerader Linie auf meine konditionelle Grenze zu. Mein roter Kopf sprach Bände.

Unser wirbelndes Üben wurde durch unseren Trainer unterbrochen. Er verwies nochmals auf die zu akzeptierenden Tatsachen: Einerseits sollte sich der Angreifer dem hinunter führenden Impuls fügen, denn die Stärke bestimmte die Falltiefe, aber nicht den Schwerpunkt des Körpers, der zu Boden fiel. Andererseits bedurfte es ein Ausnutzen der physikalischen Bedingungen, um das eigene Zentrum stabil zu halten. Ein verlängerter Ausfallschritt mit dem aufsetzenden Fuß beim Fallen und eine bestimmte Neigung des Oberkörpers sollten uns das schnelle Aufrichten ermöglichen.

Zudem sollte auch nicht die Tatsache außer Acht gelassen werden, dass der fallende Angreifer in einer Beziehung zum Verteidiger stand. Er übte nicht die einsame Koordination. Gleich bei einem Betrachten eines Bildes wurde nonverbal kommuniziert: Das Gemalte trug Vergangenes in die Gegenwart, verband uns mit den Gedanken des Künstlers und so manches Mal eröffnete es neue Sichtweisen, die uns nur auf diesem Wege vermittelt werden konnten. Es verknüpfte Menschen zwischen Raum und Zeit. Genau das geschah nun auf der Matte. Der fallende Angreifer stand in einer Verbindung mit dem Verteidiger, da er sich der Führung ergab. Gleichzeitig ließ er dies aber nur bis zu einem gewissen Punkt zu und übernahm diese Führung selbst wieder, indem er direkt erneut angriff. Mit Sicherheit bedurften diese Aspekte so mancher ruhigen Minute der Überlegung, doch ein wirkliches Miteinander ließ sich am besten einfach ausführen und gemeinsam erfahren. Denn …

wer sagte, dass wir jemals das bunte bereichernde Dasein eines Spielplatzes verlassen mussten?

 
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Trainer: Matthias Lange, 5. Dan
Trainingsort: http://aikidozentrum.com/
[1] Nach dem Klassifizierungssystem für Aikido Techniken von Masatomi Ikeda