Blickte ich zum Horizont, so eröffneten sich die eigentlichen, die wesentlichen Gedanken. Manchmal ließen sie sich zwischen den Falten des Alltags legen, doch nicht immer. Manchmal mochte ich sie nicht mehr finden und manchmal blieb ich stehen und ließ den Wind der Überlegungen darum herum wehen. Es war dann ein Wirbeln, das mich einnahm und nichts Anderes mehr zuließ. So musste ich Worte finden, eine Grenze zum eigenen Schutz.
Es gab dann keine Entschuldigung und keine Ausrede, keine Möglichkeit des Missverständnisses und auch keine Deutung mit Eventualitäten. Wenn ich für meine Gedanken Worte fand, dann waren sie für Jemanden bestimmt und transportierten Bilder. Die von mir gegebene Bedeutung blieb ihnen jedoch nur bis zu dem Punkt erhalten, bis sie als Schall die Distanz zum Anderen überbrückten.
Worte waren ein Zündeln an dem Geschehen der folgenden Zeit, denn sie vergingen nicht; sie wanderten durch den Sinn, bis sich die Gelegenheit bot, sie demjenigen zu geben, für den sie bestimmt waren. Sie gaben keine Ruhe. Sie waren wie ein Feuer, das nicht ausgehen würde, bevor es nicht unsere Aufmerksamkeit erhielt.
So sitze ich in einem kleinen Theater mit bequemen grünen Sesseln und hörte Worte von einem Anderen aus einem längst vergangenen Jahrhundert. Ich saß im Dunkeln und betrachtete die kleine Bühne, die nur mit Wenigem bestückt war. Sie brauchte auch nicht mehr; im Grunde benötigte sie die Leere, denn die Worte füllten den Raum ganz und gar. Welche unermessliche Tiefe mussten die Gedanken, aus denen sie entstanden, besessen haben?
Das Lächeln des Darstellers verschwand, um den neuen Emotionen Raum zu bieten, die ihn durch das Gesagte erreichten. Suchend den Blick auf sich selbst gerichtet, widerstand er der Helligkeit des Rampenlichts. Das Leuchtende um ihn herum schien er nicht mehr wahrzunehmen. Es umhüllte ihn, es betrachtete ihn von allen Seiten, doch seine Gedanken blieben in einem Dunkel verborgen, das sich anscheinend immer weiter ausbreitete. Die Mimik fand den Ausdruck der Worte, fand das Schweben im Schimmer des herumwirbelnden Staubes und fand mein Herz, das das unsagbare Leid des Schmerzes gleich einem Berühren der Flamme lernen musste zu ertragen.„Wenn es also wahr ist, daß die ganze Kunst des tragischen Dichtens auf die sichere Erregung und Dauer des einigen Mitleidens geht, so sage ich nunmehr, die Fähigkeit der Tragödie ist diese: sie soll unsere Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern.“
G. E. Lessing,1756
Ich wusste nicht mehr, dass ich hier auf dem grünen Samt saß. Ich wusste nicht mehr, dass die Realität mich verlor, um eine eigene Wirklichkeit entstehen zu lassen. Ich fühlte den edlen Charakter einer anderen Zeit, der mit so viel Wollen sich eine wundervolle Zukunft erträumte und an den Unbillen der Umstände scheiterte. Ich stand an seiner Seite und berührte das Flimmern der Nähe, die mich mit den Energien des Raumes ergriff und entführte. So litt ich mit ihm, so starb ich in seinen Armen und begrüßte mit ihm gemeinsam das Universum als einen Zufluchtsort der Seelen, die beschützend ihre Hände um uns legten.
Licht entzog mich dem Moment der allumfassenden Gänsehaut, die nun den Nachhall meiner eigenen Gedanken verbildlichte, deren Grundlage zur Existenz ein anderer schuf. Betäubt erfuhr ich das Vermengen neuer und alter Empfindungen in mir selbst.
Meine Hand strich über den dunkelgrünen Stoff des Sessels in dem kleinen Theater, das mir so großzügig ein Geschenk überreichte. Beim Öffnen entsandte es für mich bunte Bänder dem Himmel entgegen.
Wenn Kopf und Herz sich einig waren, wer vermag dann zu sagen was das Echte sei?
_____
Anm. z. Titel:
Gero v. Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart, 2001, S. 366.
In der Ästhetik die Vortäuschung von Personen, Örtlichkeiten, Handlungen und Ereignissen, die der bloßen Einbildungskraft entstammen, als Wirklichkeit. Der durch das Kunstwerk oder seine Darstellung hervorgerufene Eindruck kann auf empfängliche Menschen stärker wirken als Eindrücke der Erfahrungswelt.
„Illusion, oder nicht?“ soll man interpretieren als: wenn nicht Illusion, dann ist es ja Wirklichkeit?.
Aber welche Wirklichkeit?
Kant äußerte ja schon den Gedanken, dass wir nie die Wirklichkeit selbst erkennen können, sondern immer durch die Perspektive unserer Wahrnehmung. Will als Beispiel heißen: durch ein blaues Glas ist die ganze Wirklichkeit blau.
Auch Kleist sagte einmal: „Ja das ist ja wahnsinnig! Ich weiß ja wirklich nicht, wie die Wirklichkeit ist! Ich lebe ja gewissermaßen in einem Wahrnehmungsgefängnis! Ich berühre nie die Wirklichkeit, wie sie wirklich ist!“
Wunderbar geschrieben und anregend, weiter darüber nachzudenken!
LG Werner
LikeGefällt 1 Person
Genau. Eine Tragödie ist etwas mir Vorgespieltes und trotzdem kann sie in mir Empfindungen auslösen, die mich in meinem ganzen Wesen beeinflussen und dadurch für die Zukunft bestimmen. Ist es nicht das, was wir von den echten Dingen erwarten?
Danke 🙂
LikeGefällt 1 Person