Bleib bei dir!

Ein kritischer Blick fixierte mich. Ich spürte es förmlich, obwohl meine Konzentration auf den Bewegungen meines Trainingspartners lag. Mir blieb eine Nanosekunde für die Überlegung, ob ich mich gleich freiwillig korrigierte oder mein Lehrer würde es tun. Vorbei …, denn die Liste mit den möglichen Fehlern war nicht kurz. Mein Gegenüber verharrte in seinem Hieb und lächelte über meinen Kopf hinweg. Also stand er wirklich hinter mir. Schnelle Stupser auf meine Schultern und meinen Rücken bestätigten diese Tatsache ziemlich schnell. Rascher als ich atmen konnte, veränderte sich dadurch mein Stand und ich musste zugeben, die kleine Wackeligkeit, die ich vorher einfach ignorierte, war fort.

Mit einem Nicken bekam ich die Aufforderung erneut meiner Übung zu folgen. Ich holte tief Luft. Der Ablauf war beim Schwertkampf in meinen Augen fast eine Nebensache. Der für mich allergrößte Anteil an der zu überwindenden Schwierigkeit lag eindeutig in der inneren Ausführung. Wenn mein Körper einen Schritt setzte, konnte ich dies normalerweise tun. Schließlich besaß ich darin schon einige Jahrzehnte Übung. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich in den vergangenen Jahren mit etwas zufriedengab, das vielleicht der Kopie einer Kopie entsprach; nicht mehr und nicht weniger.

Wenn meine Hände etwas halten, in diesem Fall das Shinai[1], dann kann ich dies mit gerader Haltung tun oder meine Arme ein klein wenig nach vorn schicken, damit sie schon einmal das ausführen, was sich mein Kopf gerade ausgedacht hatte. Ich brauche nicht erwähnen, was nun das Korrekte wäre. Doch leichter gesagt als getan. Keine zehn Minuten vorher übten wir in der Aufwärmphase an dem Aspekt der Hüft- und Rückenhaltung während eines geraden Schlages. Also keine Frage, was mein Lehrer nun von mir sehen wollte. Kurz entschlossen übernahm er den Part meines Trainingspartners und forderte mich auf.

Die vorhin gegebenen Erklärungen formierten sich zu Gedanken-Bildern und zogen den Fokus auf meinen Körper. Mit dem erhobenen Shinai in der rechten Hand stand ich da und fühlte in mich hinein. Meine Konzentration lief an den Schulterblättern entlang und führte hinunter zum unteren Rücken. Noch sollte dieser in der Länge leicht gestreckt bleiben. Bereits bei der Überlegung zur Ausführung des Schlages folgte hier die Veränderung, wenn die Hüfte ein wenig nach hinten kippte. Damit dehnten sich an dieser Stelle die Muskeln und gleichzeitig spannte ich mit meinem Schritt nach vorn die Adduktoren des linken Beines; der Schwerpunkt sank dadurch ein wenig nach unten. Ich würde mich mit meinem Körper absolut im Zentrum befinden und den sichersten Stand der Welt besitzen. Tja, wenn… Herrje, so schwer konnte das doch nicht sein!

Immer wieder wiederholte ich die Sequenz, um die winzigen Kleinigkeiten in mir selbst ineinanderfließen zu lassen. Im Moment entsprachen meine Bewegungen einem Daumenkino, dem in der Mitte der richtige Schwung fehlte, denn ich wollte unbedingt den Einzelheiten gerecht werden, auf die vorher verwiesen wurde. Ich kam mir vor wie ein Fahrschüler, der noch über das Setzen der Gangschaltung nachdachte und dabei aber auch die gefühlt tausend anderen Dinge nicht vergessen wollte, die für ein sicheres Fahren notwendig wären.

Mein Lehrer besaß alle Zeit der Welt. Ich wusste, er würde erst weiter gehen, wenn er das sah, was er meinte.

„Jetzt ohne Schwert!“

Langsam senkte ich mein Shinai an die Seite.

„Und jetzt kommst DU auf mich zu und nicht deine Arme oder Beine!“

Manchmal ließ sich im Schwertkampf das Erforderliche nicht wirklich in Worte fassen; es war dann wichtig, intuitiv das Notwendige umzusetzen und so lange zu probieren, bis das Ergebnis passte. Also wiederholte ich, bis mein Lehrer zufrieden nickte.

„Jetzt nimm dein Schwert.“ Er ergriff die Spitze meines Shinais und hielt es sich mit Abstand vor seinen Bauch. Fragend schaute ich ihn an.

„Nur zu!“ Ein direkter Schwertstoß gehörte nicht wirklich zu meinen Lieblingshandlungen, deshalb blieb ich noch etwas verhalten.

„Nein, wie eben!“ Ich holte tief Luft und sprang beherzt über meinen inneren Zaun.

Matthias konnte locker meinen Vorstoß mit der Hand von sich halten, wurde aber durch den Impuls immer ein Stückchen weiter nach hinten getrieben. Als er an der Wand ankam und ich mein Schwert senkte, bemerkte ich überrascht, dass ich keinen Moment an meinen vorherigen Überlegungen festgehalten hatte.

Beim erneuten Beginnen der Übung nahm mein Daumenkino Fahrt auf; denn das innere Erfühlen der Muskulatur oder die gerade Haltung sollten nicht im Fokus liegen, sie waren lediglich ein Nebeneffekt, der das Eigentliche als etwas natürlich Vorhandenes spiegelte:

Mich selbst.

 
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Trainingsort: http://aikidozentrum.com/

[1] Ein Übungsschwert aus Bambus, das von vorn bis hinten mit weichem Leder umhüllt ist. Der Bambus besitzt federnde Eigenschaften; so kann es nicht wirklich zu großen Verletzungen kommen und trotzdem gibt die Eigenart des Holzes mit der Lederumschnürung einen stabilen Halt.