Wenn Eis nicht schmelzen will…

Irgendeinem kleinen, gemeinen Virus verdankte ich meine kurze Zwangspause. Fieber und Schüttelfrost wüteten ausgiebig in der letzten Nacht und waren nun vorbei. Ich fühlte mich klapprig und beschloss, den Tag hundertprozentig im Bett zu verbringen. Beide Fenster meines  Schlafzimmers standen weit offen, aber die halb herunter gelassene Außenjalousie verwehrte dem Morgenlicht das volle Hereinscheinen. Breite Streifen der goldgelben Wärme fielen durch die Lücken der Querstreben auf meine Bettdecke und ich fühlte mich in vergangene Kindertage zurückversetzt. Meine Aufgabe lag im Nichtstun. Herrlich!

Unweigerlich sprangen meine Gedanken zum gestrigen Tag, der unheimlich viel Kraft kostete, da ich mich schon mittags nicht gut fühlte; jede Kleinigkeit wog schwerer als die vorherige und zudem traf ich viele Nachbarn und Bekannte. Sie stellten Fragen oder wollten mal kurz klönen. Ich liebte das Miteinander, doch gestern strengte es mich an. Erschrocken hielt ich einen Moment in meinen Überlegungen inne, wie viele Hände schüttelte ich? Wie viele Bekannte umarmte ich sogar? Meine Zwangspause gab ich gestern frisch und fröhlich weiter, ohne dass ich wusste, was ich tat, oje…

Seufzend berührte ich mit dem Finger die Staubpunkte, die vor meinen Augen im Licht herumflirrten. Allein meine leichte Handbewegung ließ sie weitere Bögen fliegen. Sternenstaub! Wer weiß, welche Ecken des Universums in diesem Moment um mich herumtanzten…Niemand mochte Staub und trotzdem faszinierte er mich; sozusagen Kontakt mit dem Außerirdischen in entspannter Lage. Eine gute Umschreibung für das, was gestern noch geschah:

Im Gewusel einer Haushaltsauflösung besuchten mich Interessierte für einige Möbel, die ich im Netz zum Verkauf anbot. Ich wollte die schweren Stücke an Selbstabholer weitergeben, um die Wohnung so schnell wie möglich zu räumen. Vielleicht stach mir der Kontrast zu den bisher an diesem Tage getroffenen Menschen zu sehr ins Auge oder meine Sinne waren einfach schon aufs Äußerste empfindsam gespannt. Ich konnte es jetzt im Nachhinein nicht mehr sagen, welcher Punkt mich wirklich verwirrte.

Ich öffnete die Tür, um das interessierte Pärchen einzulassen, streckte meine Hand aus, um diese zu begrüßen, zog sie dann aber wieder zurück, weil sie einfach ignoriert wurde. Wahrscheinlich wussten meine Besucher bereits, dass ich anstecken konnte, wer weiß das schon. Der Blick des eintretenden Mannes ging sofort suchend in der kleinen Wohnung herum. Die dazugehörige Frau folgte ihm geschäftig mit Block und Stift bewaffnet. Etwas verblüfft betrachtete ich nun die Rückseite der beiden Besucher, die wohl mit Kennerblick jede Einzelheit des Raumes aufnahmen. Gut gekleidet, etwas rundlich und auffallend mit Schmuck behangen, grenzten sie sich eindeutig von meinem arbeitsmäßigen T-Shirt, Jeans und Turnschuh-Äußeren ab.

Das Stichwort „Mahagoni“ hatte sie gelockt. Im vorangegangenen Telefonat verriet mir der Mann, dass er für das Geschäft seiner Frau auf Einkaufstour sei und er sich wundere, wie günstig ich die Möbel ins Netz stellte. Ich verriet ihm meinerseits nicht, dass ich keine Ahnung hatte und mein Schwerpunkt auf der Tatsache lag, die sperrigen Teile kostenfrei aus der Wohnung zu bekommen. Er fragte zudem eine Liste an Dingen ab, für die er sich interessieren würde, mal sagte ich ja, mal sagte ich nein. Nun gut, er würde kommen.

Jetzt standen mir zwei Menschen gegenüber, die mich nicht wahrnahmen, kein Lächeln zustande brachten und mir nicht in die Augen sehen konnten. Das war für mich schwer auszuhalten. Innerlich schimpfte ich schon mit mir.  War ich jetzt so konservativ, dass mir die fehlenden Umgangsformen plötzlich als ein absolutes No-go erschienen? Hier ging es um ein Geschäft! Ich sah mich bereits innerlich mit verschränkten Armen dastehen. Auch ein Geschäft ist ein Miteinander und basiert auf einen Rahmen, den ich für notwendig erachtete…Mögen Geschäfte noch so anonym sein, trotzdem hatten sie in meinen Augen etwas mit Vertrauen zu tun. Das konnte mir mein Gegenüber in dem Moment nicht einmal ansatzweise vermitteln.

Sie schauten sich die Möbel an: Ach ja, nicht schlecht…mmh…was war mit dem Tisch?…Mmh…naja, das Geschirr war wohl eher ein Flohmarktartikel…mmh…der Teppich? Ach nee, keine Handarbeit…mmh…sagten sie nicht etwas von Schmuck?

Angestrengt überlegte ich, wann ich etwas von Schmuck gesagt hätte und dachte an die abgefragte Liste beim Telefonat. Ich konnte mich nicht erinnern, es erwähnt zu haben. Er meinte nun bei seinem Besuch, dass bei einer Haushaltsauflösung doch immer Schmuck vorhanden sei und wie es denn damit wäre. Ich könnte ihm auch gern alle Kleinigkeiten zeigen, dafür wäre er schließlich Fachmann.

Der Fünf-Minuten-Fast-Kontakt mit diesen Menschen reichte, um bei mir die riesengroße Skepsis-Wand zu errichten. Schneller als es mir selber bewusst wurde, log ich. Meine nicht anwesende Schwester musste herhalten. Sie hatte angeblich alles beim letzten Besuch eingepackt. Das tat mir jetzt furchtbar leid…

Die einfachsten psychologischen Regeln der Welt fanden ihren Nachweis. Wer mauert, vor dem werden ebenfalls Mauern errichtet. Das Interesse an dem fast gekauften Mobiliar verschwand wie ein Duft im Wind. Ein nicht zu findender Abholtermin für engagierte Angestellte ließ sich nicht ausmachen, da der Terminkalender (die Frau blätterte immer wieder hektisch in ihrem Notizblock herum) völlig überlastet schien. Nun gut, dann sollte wohl lieber telefoniert werden…

Beim Hinausgehen konnte ich es nicht sein lassen. Ich zwang meinem Besuch zum Abschied meine Hand auf. Sie regelten meinen Vorstoß auf ihre Art. Ich bekam notgedrungenerweise die Hand, aber der Rest blieb mir verwehrt. Eines Blickes wurde ich nicht gewürdigt.

Mein Unterbewusstsein sah das ganz locker, es gab einfach allen die Hand…oje…