Eigentlich war ich schon längst auf dem Sprung zum Rausgehen; noch an der Tür überlegte ich, was ich denn vergessen haben könnte. Ich glaube, dieses Gefühl kennt jeder. Irgendetwas bohrt sich in die Empfindungen, nur leider ist einem überhaupt nicht klar, was es denn nun wäre. Gedanklich ging ich den Inhalt meines Rucksackes durch: Decke, Kaffee, Buch, Notizbuch, Wasser und die Tafel Vollmilch-Schokolade, die ich gestern als Dankeschön fürs Blumengießen geschenkt bekam. Schokolade ist eine meiner Schwächen, ich kaufe sie mir nur nie selbst. Diese sündhaften Leckereien stehen bei mir unter Generalverdacht beim Verzehr den Umweg über den Magen überhaupt nicht zu nehmen, sondern sich sofort ohne Zeitverlust auf meine Hüften zu legen. Also bemühe ich mich, darauf zu verzichten; sollte trotzdem ein Täfelchen auf irgendwelchen Wegen zu mir finden, dann genieße ich sie mit allem Brimborium, das dafür gedacht ist, mich zu verwöhnen.
Es schien alles dabei zu sein, den Badeanzug hatte ich bereits untergezogen. Mein Blick fiel auf meine Schreibtischplatte am Fenster. Ein Platz zum Träumen und Schreiben mit Blick auf Hamburgs Dächer. Heute zeigte sich unendliches Blau mit winzig kleinen Wölkchen, sehr klar und übersichtlich. Das konnte ich von meiner Schreibecke nicht wirklich sagen. Auf dem Computer klebten überall Notizzettel, verschiedene Bücher mit farbigen Markierungen lagen links davon und auf der anderen Seite stapelte sich Schreibpapier, das ich eigentlich aussortieren wollte. Ich mochte buntes Papier in verschiedenen Schattierungen oder Macharten, doch das eine oder andere lag bestimmt schon Jahrzehnte in dem dafür vorgesehenen Fach. Als ich es betrachtete, kam mir ein Gedanke, der mich zum Lächeln brachte. Kurzerhand entschloss ich mich, diesen umzusetzen. Warum nicht?
Ich griff zur Papierschere, die in der Stiftebox lag, nahm das oberste Blatt und schnitt unterschiedlich große Herzen heraus. Dann wühlte ich in meiner Allzweck-Schublade nach Befestigungsmaterial. Tesafilm hielt nicht, Sekundenkleber war für einen Lacher gut… ha! Ich besaß noch einen Klebestreifen, der eigentlich für das Befestigen von Bildern an der Wand gedacht war. Nach Aussage des Herstellers konnte diese neuartige Erfindung einen bombensicheren Nagel ersetzen. Da sie sich auch angeblich unproblematisch wieder von der Wand lösen lassen sollten, hoffte ich inständig, dass ein anderer Untergrund ebenso reagieren würde. Ich schnitt den Klebestreifen in drei Teile. Zufrieden steckte ich nun meine Papierherzen plus Kleber in meinen Rucksack. Das merkwürdige Gefühl, etwas vergessen zu haben, löste sich in Luft auf.
Eine Stunde später saß ich auf meiner Decke an meinem verwunschenen See, um hier den Nachmittag zu verbringen. Warum die Allgemeinheit diesen Ort noch nicht wirklich entdeckt hatte, konnte ich nicht sagen. Naja, vielleicht lag es auch am Zaun drumherum, doch bisher schien niemanden meine Anwesenheit zu stören.
Beim Aufschlagen des Buches fielen mir wieder die Herzen ein. Vorsichtig nahm ich sie aus dem Rucksack, löste die Streifen vom Kleber, drückte diese auf meinen Oberarm und platzierte Herzen darauf. Ich war nun ganz gespannt, ob es klappte. Am Ende meines Nachmittags würde ich das Papier wieder abnehmen und hoffte dann auf ein sichtbares Ergebnis. Es gab Obsthöfe, die veranstalten das mit ihren Äpfeln. Sie klebten kleine Herzen auf die Schale und dort wo die Sonne nicht hinkam, blieb die Schale hell. Voilà, schon gab es einen Herzapfel; ich wollte einen Herzarm.
Die Sonne wanderte, die Thermoskanne war fast alle, die Schokolade existierte nicht mehr und die Klebestreifen juckten. Es wurde Zeit, mein Sonnenbad zu beenden.
Ein Geräusch ließ mich aufschauen. Jemand kam den Seeweg entlang! Schnell zog ich noch meine kurze Hose über, bereute es aber gleich. Ich war vorhin eine Weile bis zum Bauch im See herumspaziert, um mich ein wenig abzukühlen. Der Badeanzug war noch nass, die Hose nun auch. Überrascht sah ich eine kleine, alte Frau den Weg entlang kommen. Die Überraschung lag nicht allein nur in dieser Tatsache, sondern darin, dass ich sie kannte. Es war meine Nachbarin! Sie lebte in der Wohnung gegenüber. So manches Mal fragte ich mich wirklich, wie sie die ausgetretenen Stufen des alten Hauses jeden Tag steigen konnte. Ich kannte sie bereits seit fast einem halben Jahr und trotzdem lag unsere Annäherung lediglich darin, dass wir uns grüßten. Ein Lächeln oder ein froher Gesichtsausdruck schien ihr fremd. Manchmal gab es auch nur ein Nicken. Jegliche Bemühung meinerseits schien sie stoisch niedermachen zu wollen. Vielleicht auch eine Art von Sport: Wer zuerst lachte, hatte verloren.
Ich musste zugeben, richtig erfreut war ich über ihr Auftauchen nicht. Wenn ich ihren Gesichtsausdruck richtig deutete, so beruhte diese Empfindung wohl auf Gegenseitigkeit. Sie sah mein Gesicht und ich ihres und wir beide wussten, dass wir nun nicht mehr so tun konnten, als hätten wir uns nicht gesehen. Also kam sie etwas widerwillig auf mich zu.
„Moin, Frau Harper! Das ist ja ein Zufall, dass wir uns hier treffen!“
„Guten Tag.“
Ob sie überhaupt weiß, wie ich heiße? Manchmal frustrierten mich ihre kargen Antworten.
„Sind sie öfter hier? Ein schöner Platz, finden sie nicht auch?“ Einen kleinen Moment hätte ich schwören können, dass sich ihr Mund zu einem Lächeln verziehen wollte. Doch beim genauen Hinsehen, war nichts mehr zu finden.
Ich bat sie mit auf meine Decke. Überraschenderweise nahm sie das Angebot an. Naja, nicht ganz, sie setzte sich auf den abgesägten Baumstamm, der genau neben meiner Decke aus dem Boden ragte.
Sie sagte keinen Ton und betrachtete meinen nassen Badeanzug und die nun durch das Wasser dunkel gefärbte Hose. Ihre Augenbrauen zogen sich ein wenig nach oben. Ich musste ehrlich gestehen, in solchen Momenten kam mein Selbstbewusstsein doch ein wenig ins Wanken.
„Ich war gerade zum Abkühlen im See, deshalb bin ich noch so nass. Ich war nicht darauf eingestellt, jemanden hier anzutreffen.“ Etwas gequält lächelte ich. Was machte ich nur mit ihr?
Abwesend schaute Frau Harper auf den See: „Als kleines Mädchen habe ich hier viel geschwommen.“
„Oh, das wusste ich nicht.“ Wie denn! Die Frau hatte nie mit mir gesprochen!
„Der See gehörte meinen Eltern.“, fuhr sie weiter fort. Das wusste ich auch nicht! Überrascht blickte ich sie an.
„Ich bin ziemlich oft hier. Der See ist so wunderbar! Mir gefällt er sehr.“, sagte ich.
„Ich bin viel zu selten hier.“, erwiderte sie.
Es war erst später Nachmittag und ich erfuhr gerade von der Frau, die mit Sicherheit nicht einmal meinen Vornamen kannte und keine fünf Meter von mir entfernt wohnte, dass wir etwas gemeinsam hatten und es sehr schätzten. Eigentlich unglaublich! Der Tag fing an, mich ein wenig zu irritieren.
Die alte Dame blickte weiterhin über die glitzernde Fläche des Sees. „Dies ist eine schöne Stelle.“ Sie tätschelte den Baumstumpf auf dem sie saß. „Dies war mal ein schöner Kirschbaum. Mein Vater hatte ihn noch gepflanzt.“
Ich hörte ihr zu, blickte dann auf den See und schaute überrascht auf, als Frau Harper ganz vorsichtig eines meiner Papierherzen am Oberarm berührte, es dann abzupfte und es vorsichtig in beide Hände nahm. Der Kleber blieb auf meiner Haut haften; der Hersteller brauchte sich nicht verstecken, das Zeug hielt, was es versprach. Vorsichtig pulte ich nun die klebrige Masse herunter.
Frau Harper sah meine Bemühungen nicht. Sie blickte auf das Herz in ihren Händen, entrückte dem hellen Sonnenschein und bewegte sich mit ihren Gedanken suchend durch eine andere Zeit:
„Ich war gerade volljährig geworden. Meine Eltern eröffneten mir beim Essen meiner Geburtstagstorte, dass sie sich Gedanken über mein Leben gemacht hätten.“ Der Mund der alten Dame verzog sich ein wenig bitter.
Kurz auflachend erzählte sie weiter: „Wenn es nur Gedanken gewesen wären! Sie erzählten mir, dass sie in einigen Wochen ein Treffen mit einem Bekannten arrangiert hätten. Ihr Sohn wäre zu diesem Zeitpunkt mit seinem Medizinstudium fertig und er würde mich gern kennenlernen wollen.“
Nun war ich doch ein wenig überrascht, dass die alte Dame so viele Worte fand. Ich setzte mich in den Schneidersitz und schwieg, um sie nicht zu unterbrechen.
„Wir stritten uns, es gab harte Worte. Mir stiegen die Tränen in die Augen und ich rannte in den Garten, damit meine Eltern sie nicht sahen. Ich rannte bis zu diesem Kirschbaum und kletterte mit meinem feinen, gelben Kleid hinauf.“
Gebannt hörte ich weiterhin zu und schenkte meiner Nachbarin den letzten Becher Kaffee in dem Deckel der Thermoskanne ein. Ich reichte ihn wortlos rüber. Ihr Gesicht hatte sich verwandelt. Der Ausdruck schien ganz weich geworden zu sein und ihre kleinen Lachfältchen zogen sich weit zu den Schläfen.
„Da saß er.“ Frau Harper tätschelte wieder den Baumstumpf. „In meinem Baum saß er und schnitzte an einem Zweig mit seinem Taschenmesser. Wir beide waren überrascht. Es war der junge Mann vom Ende der Straße. Er sah gut aus…ich kannte ihn.“
Ich glaubte das Ende der Geschichte zu kennen: „Er wurde dann ihr Mann!“
Meine Nachbarin lachte auf: „Um Gottes willen, nein!“ Sie konnte sich kaum von dem Gedanken lösen und kicherte leise in sich hinein. Mit ihren Fingern strich sie über das kleine Herz in ihrer Hand, stand auf, schaute mich an, als kenne sie mich schon seit Jahrhunderten und lächelte. Sie hielt ihre Hände von sich gestreckt und eine kleine Böe nahm das Papier aus ihren Händen, trug es in Schleifen durch die Luft und ließ es sachte auf die Wasseroberfläche fallen. Dort drehte es sich und blieb im Schilf hängen.
„Alles was wir tun, verändert den Weg… Ich kletterte wieder hinunter und ging zurück. Mein Vater konnte meinen Ungehorsam nicht verwinden. Er meinte, ich hätte ihn dazu gezwungen sein Wort zu brechen. Als ich eines Tages von meiner Freundin nach Hause kam, stand meine Kirsche nicht mehr.“
Frau Harper gab mir den Deckel der Thermoskanne zurück und zwinkerte mir zu: „Andere zaubern durch eine Kleinigkeit schöne Schatten auf die Haut…“ Sie winkte, ging zwei Schritte und drehte sich nochmals herum.
„…oder übersteigen Zäune, damit die Nachbarin eine weitere Gelegenheit bekommt, sie endlich einmal kennenzulernen.“
Hatte mich schon gewundert über das textlose Bild … 🙂
Schöne Geschichte, wie immer mit allen Sinnen mittendrin, danke!
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Ich hatte die Automatik der Planung vergessen…und habs dann zu spät gemerkt…es freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefällt! 🙂
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Abkleben mit Pflasterstreifen müsste auch gehen… kommt auf die todo-Liste für den nächsten Sommer 🙂
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Hey, auch eine Idee! Danke! 🙂
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