Unus mundus

„Eigentümlich“ war der beste Begriff, der mir dazu einfiel; vielleicht auch noch der zahmste, um den Sachverhalt in eine einigermaßen vernünftige Beschreibung zu pressen.

Ich schaute aus dem Fenster. Die Abendsonne brach durch die Wolkendecke am Horizont. Für mich war dies immer eine aufmunternde Geste des Vertrauens. Es war die Sicherheit, dass neue Tage folgten, die noch unbeschrieben wie weißes Schreibpapier frei im Wind flatterten und lediglich auf meine Signatur warteten. Das Heute warf mich von links nach rechts, gleich einem Inmitten von tausend gespannten Gummi-Twist-Bändern, die ich unweigerlich bei Bewegung berührte. Ich vergaß nur, mich irgendwo festzuhalten.

Manche Menschen konnten ihr Inneres ignorieren und überlebten die Stunden ohne weitere Komplikationen. Doch sobald Emotionen ins Spiel gebracht wurden, fing anscheinend ein riesiger Staubsauger die Gedankenwelt einzufangen und gab sie nicht mehr her.

Mittlerweile wusste ich, woran es lag. Irgendwo in dieser Kopf-Wuselei versteckte sich etwas für mich Wertvolles; also theoretisch Ostern, wann immer ich es wollte. Meine Hände konnten irgendetwas tun und trotzdem turnten die Fragezeichen im Kopf herum, außer ich überschrieb diese mit einem anderen Fokus wie lesen oder lernen. Das klappte zeitweise. Es ähnelte dann einem gedanklichen Schild wie „bitte nicht stören“ oder auch „Hund im Zimmer“.

Es gab so viele bunte, merkwürdige Dinge im Leben. Merkwürdig, weil ich sie nicht verstand. Ob ich überhaupt irgendetwas so nachvollzog, wie es sich wirklich darstellte, konnte ich nicht sagen. Aber es ließ sich immerhin eine Positionierung zu Themen finden, egal, ob der Geist bis zum Zentrum des Punktes kam oder nicht. Wenn es etwas zu verstehen gab, konnte sich die Überlegung heranrobben und wenigstens die Erkenntnisse bis zu einem gewissen Bereich für sich selbst in Anspruch nehmen. Ich glaube fast, dass es überhaupt nicht wirklich wichtig war, ob man die Welt voll und ganz überblickte; wichtig war die Tatsache, dass man nicht aufhörte, etwas verstehen zu wollen und die Neugier für Neues behielt. Selbst aus wenigem entwickelte sich dann wieder ein anderer Aspekt für das eigene Leben.

Wie aufregend musste es zurzeit der Aufklärung gewesen sein, die Weltsicht neu sortiert zu bekommen? Zu begreifen, dass die Welt voller Schätze war, die noch die nächsten Jahrtausende auf ihre Entdeckung warteten! Vielleicht war dies aber auch meine verklärte Sicht aus der heutigen Zeit und die Menschen empfanden damals das Ganze überhaupt nicht witzig, da ihnen die in Stein gemeißelten Sicherheiten genommen wurden …

So manch einer behauptete, dass wir in solch modernen Zeiten lebten, dass es nur noch irgendwelche Kleinigkeiten gab, die einer Entdeckung entgegen harrten. Ja, wir waren ganz schön toll, mit dem, was täglich herausgefunden wurde, doch kratzten wir nicht erst an der Peripherie unserer Möglichkeiten?

Das absolut wirklich Kuriose lag in der Tatsache, dass die weiteren neuen Erkenntnisse nicht nur immer in der Zukunft lagen, sie lagen auch in unserer Vergangenheit! Geschichte war nicht einfach da, sie wiederholte sich oder wirkte mit all ihren Geschehnissen in die Gegenwart hinein. Uraltes lag manifestiert in unserem Unterbewusstsein, ohne dass wir davon etwas bemerkten. Zeit war also ein nicht zu betrachtender Faktor, außer das Schoko-Eis schmolz in meiner Hand schneller, als ich es essen konnte.

Wir waren eingebunden in einem übergroßen Gedanken-Muffin, der uns auf seine Art und Weise einbettete und vor allem beeinflusste. Die Worte „Unabhängigkeit“ oder „Freiheit“ bekamen dadurch fast einen utopischen Charakter. Die Welt war nicht nur um uns herum, sie kam aus unserem Inneren! Umso wichtiger erschien es mir, auf das zu hören, was sich von dort mit Bildern in den Vordergrund brachte. Für so manch einen war es dann das „Bauchgefühl“ oder „ein verrückter Gedanke“, der aus dem Nirgendwo auftauchte. War es das?

Viele der uns heute klar erscheinende Begriffe wie Raum, Zeit, Materie, Energie, Kontinuum oder Teilchen, die aus der Physik kommen, begangen irgendwann als intuitive Gedanken. Das „Atom“ entwickelte sich schon bei Demokrit (4. Jh. v. Chr.) zum Gesprächsstoff und der moderne Energiebegriff und die Beziehung zu Kraft und Bewegungsgröße füllten schon bei den alten Stoikern thematisch die Abende. Wie viel wurde seitdem in Science-Fiction-Romanen und –Filmen erdacht und fand schließlich irgendwann in der Gegenwart seine Erfüllung?

So erfasst uns etwas, das wir nicht ergründen können und doch wird es durch uns hindurch zu etwas sehr Realem. Dies gedankliche Hin- und Her-Gewerfe hatte seinen Sinn! So ließ es uns geschmeidig werden, für die neuen Dinge, die in jeder Minute auf uns warteten!

Gab es irgendwas Aufregenderes?


Anm. z. Titelbild: Photo by Michael Aleo on Unsplash

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Anm. z. Titel:

(lat) Eine Welt. Die absolute Einheit des Kosmos, die sogar die Physik, Kosmologie und Psychologie mit einfasst und verbindet. C.G. Jung verwies in seinen Schriften auf die Parallelität zwischen Physik und Psychologie. „Jung war überzeugt, dass das Unbewusste mit der anorganischen Materie irgendwie verbunden ist, … Diese geahnte Einheitswirklichkeit hat Jung mit dem Wort „Unus mundus“ bezeichnet, als die eine Welt, in der Seele und Materie nicht unterschieden sind“.[1]

Der Mensch verband sich mit der Welt; die Seele mit der Materie … So unglaublich sich die Überlegung anhören mochte, dass das Innerste in uns sich in einem Äußeren manifestierte, was sprach dagegen, diese Sichtweise eine Weile mal auszuprobieren?

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Anm. z. Text:

Ein Beispiel, um konkret zu sein:

An dem Tag, als ich meinen Text über meinen Bussard ins Netz stellte, da beschäftigte ich mich auf dem täglichen Waldspaziergang mit meinem Hund gedanklich mit dem Thema. Irgendwo zwischendrin blieb ich stehen, um die Rinde eines Baumes zu betrachten. Ich schaute hoch und genau in Augenhöhe steckte diese Feder eines Greifvogels!

Wahnsinn, was für ein Zufall!, dachte ich und freute mich ungemein. Ich ging schließlich weiter und bog um die nächste Ecke. Mein Hovawart nahm richtig Anlauf, um seitlich zwischen die Bäume zu laufen. Keine zehn Meter von uns entfernt, flog ein Habicht hoch, der am Boden gerade sich irgendein Kleintier gönnte. Natürlich könnte dies alles ein Mega-mega-Zufall sein, aber was wäre, wenn ein Außen auf unser Inneres wirklich reagierte? Was wäre, wenn unsere Träume und Versionen Gestalt annehmen würden, wenn wir sie konkret nachhaltig verfolgten?


[1] C.G.Jung, Der Mensch und seine Symbole, 21. Auflage, Ostfildern, 2019, S. 309.