Jetzt saß er da und schaute mich an. Ich traute mich nicht, überhaupt eine Regung zu zeigen. Fast festgefroren hielt ich inne. Mein Atem ging noch schnell vom regelmäßigen Rhythmus des Laufens und die Musik hämmerte mit den Bässen trotz der gedrückten Stopp-Taste in meinen Ohren. Es war gar nicht einfach, von jetzt auf gleich das Atmen so zu regulieren, dass es nicht zu hören war.
Um keinen Preis wollte ich mir diese Gelegenheit entgehen lassen! Als Wächter und Späher wohnte dieser Bussard schon lange hier in der Feldmark. Aufgrund der Größe vermutete ich, dass es sich um ein Männchen handeln musste, der die Landstraße als beliebten Zubringer seiner Mahlzeiten nutzte.
Immer wieder neigte er seinen Kopf von links nach rechts; ich fühlte mich inspiziert und beurteilt. Nun gut, ich tat das Gleiche! Angst hatte ich nicht, er aber auch nicht. Sozusagen Gleichstand innerhalb eines Momentes. Zum x-Mal verwünschte ich die Tatsache, dass ich meine Brille nur zum Autofahren und im Kino benutzte. Jetzt hätte ich sie gebrauchen können! Vielleicht fünfzehn Meter entfernt hockte er auf einem dieser älteren verwitterten Pfosten-Abgrenzungen eines Feldes, sodass sich seine Krallen an den Seitenkanten sicher im Holz vergruben.
Mit einem Schrei, der nur mir zu gelten schien, breitete er seine Flügel aus, flatterte, blieb aber dennoch sitzen. Unsere Augen betrachteten die jeweils andere Welt, die uns so viele Geheimnisse vorenthielt. Er verkörperte für mich all das, was die Natur bieten konnte: eine unendliche Tiefe und doch übersichtliche Ordnung, die sich bei jeder kleinsten Veränderung wieder in diese zurückschob. Wenn wir in stillen Mondnächten über die Natur nachdachten, dann erschien sie uns frei, leidenschaftlich und ungebunden. Entsprach dies einem Greifvogel, der jeden Tag seinen Instinkten folgte und damit in einem Ökosystem einen festen Platz besaß?
Und ich als Mensch? War ich ein unstetes Wesen, das nicht wusste, was es wollte und sollte? Ich probierte ständig aus; manchmal diesen, manchmal jenen Weg, manchmal gar keinen Weg … Ich musste meinen Platz suchen, als besäße ich keinen vorbestellten Sitzplatz im Zug. Für die einen war dieser Zustand ein Zeichen für Haltlosigkeit, für die anderen bedeutete es die ultimative Freiheit, je nach Blickwinkel und Erfahrung. Um dem Ersteren nicht zu verfallen, unterlagen wir freiwillig einer Ordnung und bildeten uns mit Wissen und Kultur. Wir schafften uns einen Rahmen, der uns in eine feste Position brachte, gleich einem Finger, der den Schmetterling an Ort und Stelle hielt.
Obwohl ich es eigentlich nicht wollte, ging ich einen Schritt auf ihn zu. Erschrocken über meine eigene Bewegung entfuhr mir selbst ein Japsen und meinem Gegenüber ein Schrei. Mit einem Flattern und leisem Surren hörte ich die Flügel des Bussards, der davon flog.
Enttäuscht stand ich da und fühlte mich ein klein wenig traurig. Was hatte ich mir gedacht? Glaubte ich ernsthaft, dass ein wildes Tier plötzlich eine fremde Person in seine Nähe ließ? Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete ich seine Flugbahnen. Obwohl er mir schon so weit entfernt schien, wusste ich intuitiv, dass er mich noch sehr wohl beobachtete, so wie ich ihn auch.
Langsam trabte ich wieder meinen Weg entlang. Immer wieder schweifte meine Aufmerksamkeit nach oben. Zwei Seiten einer Medaille sahen sich, weil sie hinschauten … sich wahrnahmen …
Waren es wirklich zwei?
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Anm. z. Titelbild: Photo by Bryan Hanson on Unsplash
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Anm. z. Titel: Begriff aus dem u.a. Goethe-Gedicht (3. Strophe, 2. Zeile)
Natur und Kunst
Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen
Und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.
Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst in abgemeßnen Stunden
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.
So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.
Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
J.W.Goethe (1749-1832)
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Anm. z. Text: Der Mensch entwickelte sich aufgrund von Bildung, Kultur und Kunst unabhängig von seinen Instinkten und hatte dadurch die Möglichkeit zu wählen; dies konnte der Bussard nicht. Nach Goethe fand der Mensch aber erst seine wirkliche Freiheit, wenn er sich fokussierte und dann genau auf diesem Weg eine „Meisterschaft“ entwickelte. Freiheit bedeutete dann nicht ein „alles ist möglich“. Freiheit lag dann darin, sich auf eine Richtung festzulegen. Folgten wir dieser, dann folgten wir einer inneren Stimme; genau wie jedes Geschöpf in der Natur …
Du sagtest in Deiner Anmerkung: „Der Mensch entwickelte sich aufgrund von Bildung, Kultur und Kunst unabhängig von seinen Instinkten..“.
Das sehe ich ein wenig anders und würde sagen: Der Mensch entwickelte sich aufgrund von Bildung, Kultur und Kunst (bewusst) gegen seine Instinkte. Unser Handeln wird doch – entgegen allen Aussagen in Quizsendungen etc. – im Wesentlichen rational geprägt und nicht wie bei Deinem Bussard aus Instinkten heraus. Und mit dem Auftrag „macht euch die Erde untertan“ mussten wir ja zwangsläufig darauf achten, uns von den Wilden zu unterscheiden, ob Tier, ob Indigene.
Diese Brücke zu überwinden ist nur durch die Domestizierung gelungen, was im Grunde unserer Disziplinierung durch durch Normen, Gesetze entspricht.
Ein nachdenkenswertes Thema, sehr schön rüber gebracht!
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Vielen Dank für Deine Worte! Hmm … du hast recht, „unabhängig von seinen Instinkten“ trifft es nicht ganz, aber „gegen …“ würde ich auch nicht sagen, da meiner Ansicht nach kein wirklicher Konflikt aufgrund dessen im Inneren stattfindet. Ich würde jetzt wohl eher sagen „trotz der bereits vorhandenen Instinkte …“ kam es zu einer Entwicklung in eine bestimmte Richtung, da es für mich zwei verschiedene Wege sind, die parallel verlaufen und sich manchmal kreuzen. Ich glaube, es gibt immer wieder Situation, in denen wir auf den anderen Weg hüpfen. 🙂
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Ja, ich glaube, Du hast Recht, wenn es um Adrenalin geladene Situationen geht oder Liebe.
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🙂
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