Im Auge des Betrachters

Von hier unten sah alles ein wenig anders aus! Mein Angreifer wirkte viel größer, viel schneller und viel überlegender. Die Handlungsmöglichkeiten schienen mir immens eingeschränkt und auch mein Bewegungsspielraum reduzierte sich ohne mein Zutun um dramatische Weise. So fühlte es sich auf jeden Fall an!

Im Wirbel eines Kampfes war jede Bewegung schnell; meistens reagierten wir aus dem Affekt heraus, weil unser Körper sich an ein Training erinnerte. Jede Faser wollte sich dann retten, in Sicherheit bringen oder einen Vorteil ergattern. Dies unbedingte Wollen in den wenigen Sekunden hörte erst auf, wenn wir eine Niederlage eindeutig als solche akzeptierten. Wann war der Punkt erreicht? Beim Rangeln, wenn es anstrengend wurde, aber im Ernstfall, erst dann, wenn es überhaupt keinen Ausweg mehr gab.

So konnte eine Situation entstehen, in der ich während eines Angriffes kniete (Hanmi Handachi). Sei es, weil ich bereits bis zum Boden niedergerungen wurde oder weil ich bei der Tasse Tee überraschend mit dem Übel der Welt zu tun bekam. Der unbedarfte Zuschauer besaß eine ganz bestimmte Erwartungshaltung, wer hier als Sieger aus dem Kampf ging. Das Gesetz des Stärkeren, des körperlich Überragenden spukte seit Urzeiten in unseren Köpfen. Doch gab es nicht auch David und Goliath? Gab es nicht die Kraft der mentalen Überzeugung und damit eine andere ureigenste Energie, die schließlich zu einem Sieg verhalf?

Als ich am Boden kniete, wusste ich ganz genau, dass ich an diesem Aspekt noch etwas arbeiten musste. Bisher lag die schnellste Reaktionsmöglichkeit im Stehen … dies wird mit Sicherheit auch so bleiben, doch wenn ich unsere Trainerin bei der Demonstration der Technik betrachtete, dann ließ sich sogar von hier unten eine Menge bewegen.

Völlig gelassen und mit zentrierter Haltung sah sie dem Angriff entgegen. Denn ein Kampf war erst entschieden, wenn einer auf der Matte lag und nicht im Vorfeld, weil der Anschein etwas anderes zeigte. Gerade für solch eine Situation offenbarte die Kampfkunst ihre Tiefen: Es galt, Geduld zu besitzen, das Äußere auf sich zukommen zu lassen und es galt, sich von einer Vermutung über den Ausgang des Kampfes zu lösen; wer dies konnte, besaß einen wichtigen Vorteil. Das Verwirrende war aber auch die Tatsache, dass der Aspekt mit der Geduld seine Grenzen besaß: wie im Stehen bremste jegliche Statik.

Wenn wir uns an die alten Wild-West-Filme erinnerten, dann kam dort meistens einer dieser ersten Eisenbahnen vor, die aus unserer heutigen Sicht urlangsam die Kilometer abfuhren. Irgendein verwegener Held würde sich irgendwann auf das Trittbrett eines fahrenden Zuges stellen wollen. Dies tat er nicht aus dem Stand heraus! Dies tat er, in dem er den herannahenden Zug entgegensah und schon mal anfing zu laufen. Bei annähernder Zuggeschwindigkeit griff er dann gefahrenlos an den Handlauf, um sich hochzuziehen. Die Wucht des Entgegenkommenden löste sich dadurch förmlich auf. Die Proportionen verschoben sich. Ungleiche Kräfteverhältnisse schienen sich aneinander anzugleichen und nahmen der Situation den Schrecken. 

Also blieb ich nicht auf meinen Fersen sitzen, um das Herannahen meines Angreifers abzuwarten, sondern erhob mich leicht, um mit der Hand den entgegenkommenden Angriff aus der Bewegung heraus aufzunehmen. Ich reckte mein Kinn, meine Achse und sah dem Angreifer entgegen.

Vielleicht war es ein Gefühl der Würde, das sich hier in seiner reinsten Form aus einem selbst heraus behauptete. Niemand wollte beim Tee-Trinken gestört werden und am Boden Befindliche waren nicht anzugreifen! Also, …

ich bin hier unten!


Trainerin: Julia Wagner, 4. Dan

Trainingsort: https://aikidozentrum.com/

Anm. z. Bild: Danke an Julia und Konrad für dies schöne Foto!


Um es sich vorstellen zu können, hier ein Beispiel: