Der Wald in der Kirche

Wie angewurzelt blieb ich stehen. Die Menschen ignorierten es, denn das passierte hier ständig. Um mich herum wurde fotografiert, gestaunt, geflüstert, geatmet und gehorcht. Langsam wanderte mein Blick nach oben. Die Besucher verschwanden aus meiner Aufmerksamkeit; das babylonische Wuseln um mich herum entfernte sich, hinterließ nur noch ein buntes Rauschen, dessen Schwingungen langsam verhallten. Licht und Farben erfüllten mich nun. Unzählige Bilder und Gedanken buhlten um meine Beachtung, während sie sich gleichsam alle auf einmal in den Vordergrund drängten.

Mein Herz schlug schnell. Die Eindrücke schienen sich immer in kürzeren Abständen vor mir auszubreiten; es wurde bunter, überwältigender und immer mehr Kleinigkeiten fügten sich in ein logisches Puzzle-Bild.

Es gab nur noch die Basilika und mich. Das war sie also… Mit einem kleinen Wiedergabegerät, das ich an mein Ohr hielt, bekam ich wesentliche Informationen über das, was sich so verschwenderisch vor meinen Augen ausbreitete; alles besaß Bedeutung, als stünde ich in einem Bauwerk, das die Natur selbst kreierte. Frei fließende Linien gaben den Eindruck des Organischen, Farben versteckten subtil Emotionen in meinem Innersten und virtuose Geometrie schuf mit mikroskopischer Rationalität das volle Maß an Schönheit.

Meine Hand legte sich auf eine der steinernen Säulen, die das tonnenschwere Dach trugen. Mit gespreizten Fingern hielten sie auf irisierende Weise die mit Rosetten geschmückte Decke.

Ich könnte auch in einem uralten Wald stehen, dessen Blätterdach von der Mittagssonne beschienen wurde. Das Empfinden des Draußen- und gleichzeitig Drinnen-Seins vermengte sich zu einem undefinierten Wohlgefühl der Geborgenheit.

Meine Zeit war begrenzt. In einer halben Stunde schloss die Kirche. Also riss ich mich vom Anblick los, um wenigstens den Rundgang einmal gefolgt zu sein. Verblüfft holte ich nach mehreren Metern des Gehens tief Luft. Buntes umfloss mich plötzlich, als wäre ich in einen Regenbogen gestolpert. Wenn Farben gegenständlich wären, dann hätte ich sie genau an dieser Stelle anfassen können. Obwohl mein Verstand die ganze Zeit mit einem erhobenen Zeigefinger auf Realitäten hinwies, drehte ich ihm den Rücken zu und versank mit Haut und Haar in dieser Pracht. Wenn Kunst mich einfing, dann wollte ich es auch zulassen…

Jetzt blieben nur noch zehn Minuten. Hinter mir lichteten sich schon die Menschenmassen, da keine Besucher mehr eingelassen wurden. Etwas betrübt über die Zeitknappheit nahm ich mir trotzdem die Muße zur Betrachtung und stand dadurch, ohne es wirklich zu bemerken, ein wenig im Wege. Ein kleiner kugeliger Mann empfand diese Tatsache als unerhört und schubste mich vehement an die Seite.

„Hey!“

Empört über den regelrechten Schubser, stand ich an der Steinmauer und stützte mich ab. Gerade wollte ich etwas Passendes dazu sagen, als meine Hand ein Nachgeben im Gemäuer bemerkte. Überrascht wandte ich mich der Wand zu und befühlte nun bewusst den Untergrund. Eine sehr schmale Tür, Ton im Ton mit dem Stein und ohne Griff, wahrscheinlich durch eine innere Feder zugehalten, gab etwas nach. Überrascht blickte ich mich kurz um, denn ich wusste sofort, dass es Dinge gab, denen ich mich nicht entziehen konnte. Hier tat sich im wahrsten Sinne eine Tür auf und das nur für mich…

Mit einem leisen Plopp schloss sich der schmale Durchgang hinter mir und zeigte nur noch in der Umrandung die schmalen Ritzen des Tageslichtes, das hier nun ausgeschlossen wurde. Mit meinem Eintreten erleuchteten sich kleine Lichter an den Stufen der zu meinen Füßen herabwindenden Treppe. Der Rest war dunkel. Mit beiden Händen links und rechts abstützend, ging ich Stufe für Stufe langsam hinab. Mit jedem Meter vergrößerte sich die mich umgebende Stille, nur mein Herz schlug immer schneller und lauter.

Dann öffnete sich unverhofft der Raum und ich stand in der Krypta, die ich bereits vom Erdgeschoss durch ein Fenster von oben habe bestaunen dürfen. Doch alles sah anders aus. Der schlichte Raum mit alten Holzbänken und einem kleinem Altar erleuchtete mit dem Licht unzähliger an den Seiten aufgestellten Kerzen. Nur wenige waren noch nicht entzündet. Die Kühle der Mauern, die Stille nach dem bunten Durcheinander oben in der Kirche und das warme Licht der Kerzen legten sich über meine Aufgeregtheit.

Ich durfte hier eigentlich nicht sein. Langsam ging ich zur vorderster Bank und setzte mich an den Rand. Waren Kirchen nicht für alle da? J..ein, wenn sie offensichtlich geöffnet waren, schon…ein leises Geräusch von der Seite ließ mich herumfahren͂. Erschrocken stellte ich fest, dass dort jemand stand und weitere Kerzen mit einer größeren anzündete. Für einen Moment musste ich meinen Fluchtreflex unterdrücken. Der in einer dunklen Kutte gekleidete Pater hatte mich bestimmt schon längst bemerkt, ließ sich aber in seiner Aufgabe nicht unterbrechen.

Also blieb ich einfach sitzen, beobachtete ihn aber weiter aus den Augenwinkeln. Es blieben noch fünf Kerzen, vier, zwei und die letzte erleuchtete nun…und er drehte sich um. Er lächelte mich an. Mit der großen brennenden Kerze in der linken Hand schritt er auf mich zu und legte seinen Zeigefinger der rechten Hand auf den Mund, um mich um Stille zu bitten. Ich nickte.

Überraschenderweise setzte er sich neben mich und schaute auf das alte hölzerne Kreuz an der Rückwand des Altars. Irritiert schaute ich ihn kurz an. Sein Gesicht war sehr ernsthaft und seine ausdrucksstarken Züge traten deutlich hervor. Das kurzgeschorene weiße Haar und der sehr gepflegte volle Bart standen im Kontrast zu seiner braun gebrannten Haut, die einen Mann offenbarten, der sich viel im Freien bewegte. Seine dunkle Kutte schien aus grober Baumwolle zu sein und wurde von einer kunstvoll gedrehten Kordel zusammen gehalten. An der Seite hing hier an einer silbernen Kette ein kleines, sehr alt erscheinendes Kreuz, das ich in dieser Form noch niemals gesehen hatte.

So tat ich es ihm gleich und schaute ebenfalls zum Altar. Mir wurde die kuriose Situation bewusst. Schuldgefühle, weil ich mir unerlaubter Weise Zutritt zu einem für die Öffentlichkeit verschlossenen Raum erschlichen hatte, durchzogen meinen Sinn. Gut, es gab nirgendwo irgendwelche Schilder mit einem „Zutritt verboten“, ich habe kein Schloss aufgebrochen und niemand vertrat mir den Weg. Ich ging lediglich davon aus, dass ich nicht hier sein durfte. Ich vermutete es…

Andererseits… die Ruhe des Paters neben mir an meiner Seite, das leichte Flackern der unzähligen Kerzenlichter und die endlose Stille des Raumes in der Tiefe…

„Nun?“

Erschrocken über ein gesprochenes Wort blickte ich wieder zur Seite und schaute in ein freundliches Gesicht, das erwartungsvoll auf eine Antwort von mir wartete.

Ohne etwas dagegen tun zu können, meldete sich wieder mein schlechtes Gewissen zurück. Gleich einem Tiger sprang es mich an und ließ meinen Puls wieder hochschnellen. Schon wollte ich etwas zur Entschuldigung äußern, als ich die vielen kleinen Lachfältchen in den Augenwinkeln meines Gegenübers sah. Hier saß jemand, der ganz genau wusste, welche Gedanken mich plagten…

Mein Blick fiel auf die stille Flamme der Kerze in der Hand des Paters. Andererseits musste ich bedenken, dass ich sozusagen hierher geführt wurde. Mir wurde ein Schatz gezeigt und ein unvorhergesehener Moment der Stille und Sanftheit würde einen Platz in meinen Erinnerungen erhalten können. Es galt nun das eine loszulassen und das andere anzunehmen.

So erwiderte ich den Blick des Paters:

„Danke!“

Seine hellen Augen sahen mich wohlwollend an und die vielen kleinen Lachfältchen umrahmten sie:

„Immer gern!“

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Anm. z. Text: Die Basilika Sagrada Familia in Barcelona wurde von Antoni Gaudi entworfen; der Bau begann 1882 und wird vermutlich im Jahre 2026 abgeschlossen sein. 2005 wurden Gaudis Arbeiten in der Liste des Weltkulturerbes aufgenommen und im Jahre 2010 weihte Papst Benedikt XVI. die Kirche.

Beim Verlassen der Kirche am letzten Wochenende las ich noch eine kleine Standtafel auf der die wesentlichen Gedanken Gaudis in kurzen Worten zusammengefasst wurden. Mein Blick blieb an einem Satz hängen:

„…es sollte eine Kirche für alle sein, die Hoffnung, Liebe und Glaube verschenkte.“

Senor Gaudi, das ist ihnen wirklich gelungen!