Woran lag es nun? Was machte einen Ort zu einem besonderen? Konnte ein einzelner Raum per se so sein? Vielleicht entstand das gewisse Etwas auch nur durch einen Menschen oder eine Gruppe, die dies Attribut forcierte und für seine Zwecke nutzte. Schließlich kennen wir alle die einfachste Form der Aufwertung durch schlichte Behauptung:
„Das ist ein Zauberstab eines Druiden. Wenn du ganz genau an deinen Wunsch denkst, diese bestimmten Worte sagst und in den nächsten Tagen es mehrmals wiederholst, dann geht er in Erfüllung.“
Klappt, hab ich mit acht Jahren ausprobiert. Heute wusste ich, dass es nicht der Zauberstab war, sondern meine eigene Präzisierung eines Traumes, den ich in mir trug. Wer genau sah, was er wollte, bewegte die Geschicke der Welt…
Dieser Gedanke gab mir aber keine Antwort. Ich saß inmitten der Stadt in einem ehrwürdigen alten Haus der vorletzten Jahrhundertwende und schaute zur weitentfernten Kuppel des Raumes. Im Halbdunkel betrachtete ich die ultramarinblaue Raumdecke und die unzähligen kleinen eingelassenen Lichter, die ihre Verwandten am dunklen Winterhimmel ziemlich gut entsprachen. Stille lag über dem kühlen großen Raum, den ich mit mehreren teilte. Eine schwere Eichentür schloss sich mit einem tiefen alten Ton, den schwere Tore gern von sich gaben, wenn sie etwas von der Außenwelt trennten, was nicht jeder sehen sollte.
Was war nun das besonders Verschlossene? Gab es hier etwa Geheimes? War es denn wirklich noch geheim, wenn es mit jemand geteilt wurde? War es geheim, wenn viele davon wussten und das Internet oder auch Bücher fast jede Information darüber geben konnten?
Wenn ich im Kunstmuseum ein Bild von van Gogh betrachtete, so kennen es bereits viele, doch nicht alle. Ist es dadurch bereits ein Geheimnis? Nein, denn es war für alle unter bestimmten Voraussetzungen zugänglich. Ein Besucher musste sich die Eintrittskarte zum Museum leisten können und auch das Wissen besitzen, dass es dort sehr Sehenswertes gab, damit er schließlich deshalb überhaupt auf die Idee kam, ins Museum zu gehen. Außerdem wurden die Exponate des Museums nicht absichtlich von der Öffentlichkeit fern gehalten, das Gegenteil war der Fall. Das war es also nicht.
Ich betrachtete die Gesichter, die ich noch bei dem sparsamen Licht erkennen konnte. Ähnliche oder andere Fragen schienen in ihren Gedanken zu sein. Ihre Blicke fielen auf das alte, aber gut gepflegte Interieur aus dunklem Holz, auf die hohen Wände mit großen gediegenen Strahlern, die noch runtergedimmt die Atmosphäre unterstützten und auf die mannshohen Kerzenleuchter, die ich gern alle zusammen mit nach Hause genommen hätte.
Doch das war nur ein Rahmen für die vielen besonderen Dinge, die ich beim genaueren Betrachten im Halbdunkel erkennen konnte. Bewusst platziert fanden sie im Raum ihren eigenen Platz, um den hier Verweilenden an Worte zu erinnern, die als Leitgedanken das eigene innere Wachsen begleiten sollten. So sah ich Symbole, deren Tiefe ich nur erahnen konnte. So hörte ich Worte, die ich nur ansatzweise verstand. Vergangenes wie Gegenwärtiges und Zukünftiges sprach zum Hörenden, denn die Symbole entsandten ein nicht verhallendes Echo, das die wirkliche Tiefe erst mit der geschulten Wahrnehmung entfalten konnte.
Welchen Sinn besaß es, jemanden ein Symbol zu zeigen, der dieses nicht verstand? Begab sich ein Symbolträger damit nicht in Gefahr, missverstanden zu werden?
Wenn mir also etwas nicht erzählt wird, weil ich es ohne Unterweisung nicht gänzlich verstünde, war es dann ein Zurückhalten eines Geheimnisses oder war es ein Schutz vor falscher Einschätzung?
Als alle Kerzen den Raum beleuchteten und die vielen Sterne von der Kuppel auf mich herabschienen, strich ich mit den Fingern über die Blütenblätter, der mir geschenkten Rose; weich und zart sprach sie ihre eigene Sprache, gleich all den anderen tausend Dingen in dieser Welt. Sie konnte „geheimnisvoll“ sein oder schlicht und einfach ein „Danke, dass du da bist“ bedeuten.
Nach einer Stunde verloschen die Lichter und die schwere Eichentüre schloss sich hinter den letzten Gästen. Sie verabschiedete sich wieder mit ihrem eigenen Ton. Jetzt wusste ich, was sie damit meinte.