Ungewohnte Zeit

Noch ganze 30 Minuten musste ich überbrücken. Bisher klappte alles nach Plan: Zehn vor vier klingelte mein Wecker, die erste AKN fuhr ohne Verspätung um halb fünf vom Bahnhof und ich schlief nicht in der Bahn ein, weil mein Ellbogen von der Fensterkante abrutschte. Jetzt stand ich am Hamburger Hauptbahnhof und verwünschte die Jahreszeit, die mich in meinem müden Zustand ziemlich unzufrieden an meine warme Winterjacke denken ließ; denn diese lag sicher zuhause.

Die bunten Lichter einer kleinen Bäckerei zogen mich gleich einer Motte zu sich. Eines musste ich den netten Damen hinter dem Tresen wirklich lassen, sie sahen völlig ausgeschlafen aus und schenkten mir ziemlich viele Lächeln als ich meinen großen Kaffee mit Milch bestellte. Als ich aufblickte sah ich mein eigenes Spiegelbild an der hinteren Wand. Jeder würde mir glauben, wenn ich sagte, dass mein Wecker bereits mit dem ersten Hahn klingelte, mir kalt war und ich sehnlichst auf meinen ersten Kaffee wartete.

Ich stellte mich an die Seite der kleinen Bäckerei und hielt mich mit beiden Händen an meinem Heißgetränk fest; irgendwann würde sich hoffentlich die Wärme auch in meinem Körper bemerkbar machen, das war jedenfalls der Plan. Eine halbe Stunde konnte lang sein. Warum musste Frankfurt eigentlich so weit weg sein? Um mich abzulenken, schaute ich mich um. Die Dame hinter dem Tresen lächelte mir immer noch zu; es war wohl ok, dass ich mich hier in ihrer Nähe aufhielt. Ein freundlicher Ort zum Warten.

Eine melodische Stimme drang an mein Ohr und ich schaute auf. Keine fünf Schritte weiter wartete ein junger Mann mit geschlossenen Augen. Sein Gesang hörte sich wunderschön an. Ich verstand seine Sprache nicht, doch er strahlte eine innere Zufriedenheit aus, die zu meinem frühen schläfrigen Morgen passte. Während ich mit kleinen Schlucken den wirklich heißen Kaffee trank, horchte ich in seine Stimme hinein und ließ mich mittragen von dem ausgeglichenen Klang. Eigentlich war mir gar nicht mehr kalt, eigentlich war ich gar nicht mehr müde und eigentlich war es ziemlich cool, dass ich die Möglichkeit hatte, hier zu sein.

Die nette Dame hinter dem Tresen öffnete den kleinen Ofen an der Seite. Der Duft von frisch gebackenen Croissants strömte in meine Richtung. Der Morgen wurde immer besser, denn ich wusste, dass in meiner Tasche bereits zwei von diesen wundervollen Gebäcken auf mich warteten. Mein nächster Kaffee in der Bahn würde mein Frühstück zu einem solchen machen.

Eine Gruppe von der letzten Nacht übrig gebliebener Jugendliche verabschiedeten sich keine zwei Meter vor mir voneinander. Einfach unglaublich, wieviel Energie sie noch ausstrahlten, obwohl noch keine Minute Schlaf ihrem Körper vergönnt war. Eine der jungen Frauen kicherte ganz fröhlich, da ein ziemlich nett aussehendes Exemplar von Jungmann ihr beim Verabschieden am Ohr kitzelte und ihr das Versprechen abnahm,  dass sie sich bitte doch unbedingt in den nächsten Tagen melden solle; er würde auf sie warten. Sie schenkte ihm ein glückliches Lächeln als Antwort. Ihr Lächeln steckte mich an.

Ich merkte meine müden Augen, doch das war nicht mehr schlimm, denn die Welt um mich herum war genauso, wie sie sein sollte:

Einfach schön.