Laterna magica

Mittlerweile legte sich die Dämmerung wie ein Tuch über den Abend, wenn die Bokkenstunde begann. An diesen fast schon winterlichen Beginn musste ich mich erst noch gewöhnen; selbst die großen Fenster konnten wir nicht mehr sperrangelweit öffnen, sodass die Tango-Klänge aus dem Erdgeschoß leider kaum zu hören waren. Alles hatte wohl seine Zeit.

Heute arbeiteten wir an einer Bewegungsabfolge[1], die in meinen Augen in ihrer perfekten Ausführung förmlich Wellen an den Betrachter spülte. Mit mehrmaligen Wiederholungen führte unser Lehrer mit einem fortgeschrittenen Schüler diese kurze Sequenz vor. Mein Auge konnte kaum die Einzelheiten herausfiltern; so schnell lief dies kleine Kino ab. Während ich zuschaute, musste ich für einen Moment über meinen Vergleich lächeln, doch einen Augenblick später empfand ich ihn gar nicht unpassend. Ich versuchte die wichtigen Details mit dem gesehenen Gesamteindruck zu verbinden. Es ging nicht, denn die Sichtweise auf das Ganze verwischte den Eindruck des Einzelnen.

Jede Abfolge besaß seine eigenen Regeln, seinen eigenen Ausdruck und vor allem seinen eigenen Stempel des Besonderen. Sie war vergleichbar mit einem kleinen Video, das in der Lage war, den Betrachter für einen Moment zu entführen. Nicht nur einzelne aneinandergereihte Bilder offenbarten sich in diesen wenigen Sekunden, sondern ebenso eine besondere Impression im Inneren des Beobachters. Etwas Neues zeigte sich dann. Es war kein augenscheinlicher Vorgang. Die Wirkung war da, obwohl sie sich kaum erkennen ließ, denn es verschwand im Bewusstsein wie die Werbung in einem gutgemachten Kinofilm. Als Lernende konnte ich dann später in der eigenen Ausführung diesen besonderen Stempel in mir selbst mit dem vergleichen, der noch aus der Vorführung nachhallte. Doch bevor dies möglich war, musste ich das Einzelne verstehen.

Eine Kata barg nicht einzig und allein das Offensichtliche. Ein unbedarfter Zuschauer könnte sagen, es würden nur diverse Techniken verbunden und vorgeführt, was mit Sicherheit als ein Aspekt seine Richtigkeit besaß. Doch spätestens, wenn ein Schüler sich diese Kata als Aufgabe zu eigen machen wollte, dann bemerkte er, dass ein Gesamtprodukt erst in tausend Einzelteile zerlegt seine Tiefen zeigte. Jede einzelne Sequenz verlangte den Blick auf Handhaltung, Körperausrichtung und damit notwendige Schwerpunktverlagerung.

Es war nicht einfach, die vielen Informationen für eine Bewegung gleichzeitig zu berücksichtigen. So baute uns Matthias beim Herantasten an einen Abschnitt den einen oder anderen Zwischenschritt ein, der später wieder wegfiel. Mit diesen Zusatzbausteinen war es möglich, das bewusste Nachdenken zu einem intuitiven Reagieren werden zu lassen, das dann von ganz allein all die zu berücksichtigenden Punkte beinhaltete. Später in der Gesamtform war ein Überlegen so oder so nicht mehr zeitlich umsetzbar.

Zudem galt es auch alte konditionierte Bewegungsabfolgen zu korrigieren. Als wir den ersten Teilabschnitt übten, sollte mein Angreifer mit einem direkten Schlag beginnen und ich mit einem kurzen angedeuteten schrägen Hieb kontern, bevor das Schwert mich erreichte. Eigentlich war ich ganz zufrieden mit mir, bis ich mit einem Blick die gerunzelten Augenbrauen meines Lehrers wahrnahm, der in meine Richtung schaute.

„Kein Abblocken!“

Mit gestreckten Körper und erhobenen Schwert stand ich vor meinem Trainingspartner und sah herunter. Nun gut, der Fels in Gibraltar stand genauso rum. Seufzend fand ich wieder meine Grundposition. Unbewusst kamen wohl die aus Kindertagen spielerisch angeeigneten Reaktionen durch, die in einem kichernden Gerangel endeten und den Spaß als oberste Prämisse besaßen. Damals war es ein intuitives Dagegenhalten, heute lernte ich die Tiefen der Möglichkeiten. In steter Wiederholung sollte ich den Fluss der Bewegung aus seiner Folgerichtigkeit heraus nachzeichnen und mich nicht mit einem Abblocken in eine Sackgasse manövrieren. Mein Körper war dann starr, fest und schwer beweglich.

Matthias zeigte uns nochmals die vollständige Kata. Nach dem eigenen Herumprobieren erkannte ich nun viel besser die versteckten Einzelsequenzen, die wie Bilder in einem Daumenkino ineinander übergingen und im Gesamten versanken.

Egal was ein Mensch tat, alles hinterließ Spuren; seien sie aus dem heutigen Tagen oder aus alter Zeit. Wer konnte mir sagen, welcher Gedanke, welche Tat, welcher Traum uns so veränderte, dass wir unseren Weg letztendlich finden konnten? Also bedurfte es zu jeder Zeit der Achtsamkeit.

Eine Kata mochte für so manchen nur eine Bewegungsabfolge sein, doch sie hinterließ immer einen Eindruck im Inneren.

Wer wusste schon, wohin dieser führte?

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Anm. z. Titel: 1. Einfachster (im 17. Jh erfundener) Projektionsapparat 2. Form der Bühnenaufführung in Kombination mit vielfältiger Projektion von Filmen und Diapositiven auf Bildwände.

Trainer: Matthias Lange, 5. Dan.

Trainingsort: http://aikidozentrum.com/

[1] Kashima, 2. Serie Ura Tachi, Nr.10 Enbi Ken