Konnte es denn wahr sein! Der Nebel wurde immer dichter! Mit leicht zusammen gekniffenen Augen wollte ich irgendetwas erkennen. Klasse, jetzt hörten sogar die weißen Straßenbegrenzungen an den Seiten auf! Was passierte, wenn mein Auto seinen Geist aufgab und das Netz der allgemeinen Kommunikation in diesem Hinterland nicht funktionierte? Ich hätte nicht einmal ein Licht. Dicht stehende Fichten-Reihen verdunkelten die Sicht noch mehr. Bilder aus längst vergessenen Gruselfilmen drängten sich in den Vordergrund: „Nebel des Grauens“ oder „Das Monster aus der Tiefe“. Ich fühlte mich nicht wohl…
Aus irgendwelchen Gründen blickte ich kurz auf die Uhr. Auch noch Mitternacht! Das passte. Entweder durfte ich mich jetzt fürchten oder wie Aschenputtel fühlen, die zur gleichen Zeit nach Hause ging. Für ein Gruseln brauchen wir keinen Friedhof, wir brauchen kein verlassenes Haus, wir brauchen nur uns selbst. Die Brutstätte liegt in uns. Angst zwingt unseren Körper in die Knie, sie malträtiert unser Nervensystem, sie steckt uns in einen nicht mal goldenen Käfig und wirft den Schlüssel ins Meer.
Höre ich mir eigentlich manchmal selber zu? Alles ist nur in meinem Kopf! Contenance! Beim inneren Geraderücken bemerkte ich, wie wenig mein Kostüm für eine zweistündige Autofahrt geeignet war. Meine Gedanken gingen zu meinem Notfall-Paket im Kofferraum. Seitdem mir vor einem Jahr eine Freundin nach einer Party beim Autofahren unglücklicherweise die Hose vollspuckte, habe ich immer ein Päckchen mit T-Shirt, Jeans und Turnschuhen im Kofferraum liegen. Beherzt hielt ich an, ließ aber den Motor laufen, damit mir das Licht nicht ausging. Die hohen Schuhe lagen bereits auf dem Beifahrersitz, denn nur die ganz Geübten konnten mit Sechs-Zentimeter-Absätzen Auto fahren. Meine Strümpfe waren so oder so ruiniert, da diese ständig an den Pedalen hängen blieben. Also egal. Ich sprang schnell heraus. Jetzt hatte ich auch noch schmutzige Füße. Wasser würde es wieder in den Griff bekommen. Der Zweiteiler landete auf dem Rücksitz und ich fühlte mich um tausend Jahre besser. Mein Äußeres glich wieder meinem Inneren. Ich mochte mich gern ab und zu schick anziehen, doch wenn es nicht nach meinen Bedingungen geschah, kam immer ein klein wenig grummelige Stimmung in mir hoch.
Als ich wieder den Wagen in Bewegung brachte, schaute ich auf mein Navi. Alles war in Ordnung. Ich bräuchte noch siebzig Minuten und dann könnte ich wieder in meinen vier Wänden sein. Kaffee wäre jetzt gut, doch das wäre wahrscheinlich zu viel vom Universum verlangt. Die Umgebung kam mir auch schon nicht mehr so schlimm gruselig vor. Alles eine Frage der Disziplin. Ein Wort, was mich unweigerlich gedanklich zu meinem verbrachten Abend führte.
Es war keine Party für das pure Vergnügen. „Vernetzung“ war das Stichwort des Abends. Ich suchte keine Verbindung fürs Leben, sondern Geschäftspartner. So zog ich mein dunkelblaues Kostüm an, steckte die Haare hoch und sprach mich mit „Sie“ an, als ich mich vor dem Spiegel schminkte.
Wie wollte ich von Menschen gesehen werden, die mich noch nicht kannten, die ich aber kennenlernen wollte? Jetzt war der Abend vorbei und ich fühlte mich in eine Harry-Potter-Geschichte versetzt, in der die Magie in bunten Schleifen durch die Luft flog und aufgrund eines ungenauen Spruches irgendwo irgendwann auftraf. Ich war der Magier-Eleve, der seinen Zauberstab noch nicht richtig benutzen konnte. Ich weiß nur, irgendetwas habe ich bewirkt, doch ich konnte nicht wirklich sagen was. Ich könnte nicht einmal einem guten Freund meine Problematik erklären. Ich war wohl durcheinander.
Was ist passiert? Kontakt mit einem LKW auf offener Straße? Besuch von Aliens? Oder einfach ein freundliches Wort unserer liebsten Feindin? Ich musste gestehen, es waren nicht die großartigen Umwälzungen des Lebens, die mich durcheinander brachten, sondern das Klitzekleine, das Minimale, das kaum Bemerkbare, das so mancher nur mit einem Schulterzucken verzeichnen würde. Ich war wohl empfindsam…
Die Hors d’œuvre schmeckten fantastisch. Ich stellte nur fest, dass mehr als eine Handvoll von diesen kleinen Dingern einen Frauenmagen sehr wohl zu füllen wussten. Das war aber nicht schlimm. Ich unterhielt mich hier und dort, freute mich über eine Karte eines Literaturagenten, der mich bat, ihn nächste Woche anzurufen, wurde zwei Mal in der ersten Stunde des Abends zum Tanzen aufgefordert, fand mich dabei ganz schön klasse, da mir immer noch die Basis-Schritte für Disco-Fox und Walzer geläufig waren und stellte beim Schuhwechsel keine bleibenden Schäden fest.
In der zweiten Stunde bemerkte mein Tanzpartner, dass irgendetwas anders wäre, als beim ersten Tanz. Ich lächelte ihn nur verwundert an und verriet ihm nicht, dass man als Magier-Eleve sehr wohl innerhalb einer Stunde um vier Zentimeter schrumpfen kann. Dann wurde mir ein wenig schlecht, da ich doch nicht die Finger vom Buffet lassen konnte. Um mein körperliches Unwohlsein zu ignorieren unterhielt ich mich mit dem Nebentisch und stellte fest, dass die Karte des Literaturagenten an alle verteilte wurde, die korrekt ihren Namen schreiben konnten; ich verbrannte sie demonstrativ am Teelicht.
In der dritten Stunde trank ich mein erstes und einziges Glas Wein, da ich davon ausging, nun niemand Nennenswerten mehr für eine Geschäftsverbindung kennenzulernen; ich beschloss nun den privaten Teil des Abends zu beginnen. Da die meisten Anwesenden ebenfalls zur Verbesserung des Vitamin B anwesend waren, ergaben sich neue Gespräche, die durchaus interessant erschienen. Ein Händler versprach mir das Blaue vom Himmel, sollte ich mein Buch auf dem Markt bringen, ein freier Platz in seinem Regal wäre mir sicher. Das war ziemlich nett, doch morgen würde er es wahrscheinlich vergessen haben. Das war aber auch nicht schlimm. Ich unterhielt mich gut.
Einen kleinen Moment unterbrach ich meine Erinnerung und achtete sicherheitshalber mal wieder auf die Umgebung. Der Nebel schien sich aufzulösen. Ich kam anscheinend in höhere Lagen, die nicht ganz so viele kleine Gräben und Tümpel ihr eigen nennen konnten. Die Landschaft ließ sich schon viel besser erkennen. Das fahle Mondlicht verriet mir, dass ich unbedingt am Tage wieder einmal hierher kommen müsse. Im Hellen war es hier bestimmt richtig traumhaft.
Mein Blick fiel wieder auf meine zwei Paar Schuhe auf dem Beifahrersitz. Warum tat ich mir das überhaupt an? Warum gab ich mir Mühe einem gesellschaftlich korrekten Bild einer Geschäftsfrau zu entsprechen, obwohl ich im Grunde überhaupt keine Freude daran besaß, mich so zu kleiden? Naja, stimmte so nicht ganz. Wenn ich eine Konfirmation oder Hochzeit besuchte, dann trug ich auch etwas Besonderes, doch DANN hatte ich Freude daran; es gehörte dazu, um den Hauptpersonen den festlichen Rahmen zu schenken. Diese kannten mich aber auch; sie wussten, dass ich mich in einer Jeans mehr zuhause fühlte als in jeder Designer-Kleidung. Es war dann ein Geschenk von meiner Seite, um den Umständen Rechnung zu tragen.
Warum also gestern Abend? Ich bekam die Einladung von einer mir befreundeten Buchhändlerin. Als ich zum tausendsten Male in ihrem Laden herumstöberte, schob sie mir die Karte zu und meinte, Verbindungen seien wichtig. Je eher ich damit anfinge, umso besser. Mit einem Lächeln fügte sie noch hinzu, dass dem Zufall auch ein klein wenig die Chance geschenkt werden müsse zuzuschlagen. Sie wusste ganz genau, solche Worte fingen mich ein; sie kannte mich dafür schon zu lange.
Warum war ich der Meinung, ich müsse mich unbedingt auf eine bestimmte Art und Weise zeigen? Wollte ich seriös wirken? Zuverlässig? Ordentlich? Warum wollte ich nicht so wirken, wie ich normalerweise war? Ich war trotzdem seriös, zuverlässig und ordentlich. Ist es der Hang nach Anpassung, um nicht aufzufallen oder schlicht und einfach eine Bequemlichkeit, da Konformität wesentlich einfacher auszuhalten ist, als irgendeine Spur von Anderssein?
Von weitem leuchteten bereits die Lichter der Großstadt. Der Nebel war fort. Jegliches gruselige Hirngespinst hatte sich aufgelöst. Es war bereits halb zwei in der Nacht, doch ich fühlte mich kein Stück müde. Das Gegenteil war eher der Fall. Die Fahrt im Nebel besaß ihre eigene Qualität; im Grunde war der Lohn des Abends die Erkenntnis der Nacht. In drei Monaten gab es die Wiederholung der gestrigen Veranstaltung. Ich werde wieder hingehen, doch diesmal mit anderen Vorzeichen. Ich werde dort sein, so wie ich bin und nicht verkleidet.
Keine Frage, ich werde mich ebenfalls von meiner besten Seite zeigen wollen, doch wird es eine Seite sein, die mir selbst eher entspricht.
Eine wunderbare Erkenntnis.
Wir sollten, wo immer auch möglich, auch unsere Mitmenschen dazu animieren, sich selbst zu sein.
LikeGefällt 1 Person
Vielen Dank 🙂 Es ist nicht immer ein einfaches Unterfangen, wirklich darauf zu hören, was das eigene Herz möchte. Viel zu oft steht die Erziehung im Weg. Eltern meinen es bestimmt immer gut, doch es ist ein großer Schritt zu erkennen, was ich selbst unabhängig davon möchte.
LikeLike
Es ist ja nicht nur die Erziehung, oft sind es ja auch handfeste (meist wirtschaftliche) Gesichtspunkte.
Aber es immer wieder erschreckend: jeder weiß, dass der Gegenüber nicht er selbst ist, man selbst ja auch nicht, und dennoch wiederholt sich das Spiel viele Male. Ein revolvierender Zirkus aus Eitelkeiten, Unsicherheit, Wünschen, und – wie man durch die letzten Promi-Skandale ja gesehen hat – auch von Vorteilsnahme.
Es wäre viel einfacher, wenn alle ehrlicher (miteinander) wären.
LikeGefällt 1 Person