Die Welt hinter der Mauer

Manchmal möchte ich ein kleiner Seestern im blau-grünen Meer sein. Mein Universum besteht dann darin, dass mich etwas hautnah umgibt und immer da ist, egal wie es mir geht. Ich bewege mich in diesem Element mit bunten um mich herumwuselnden Wesen; jeder für sich und doch alle zusammen. Ich bin mir dessen nicht bewusst, trotzdem brauche ich dies fließende Etwas, um mich zu bewegen oder Nahrung zu finden. Der Reichtum des Meeres nimmt mich in seine Arme, ich fühle mich geborgen und besitze trotzdem keine Vorstellung welche Größe mich umgibt. Etwas ist da; darauf vertraue ich.

Ich genieße das Bild in meiner Vorstellung und die Gelassenheit, die damit verbunden ist. Trotzdem lasse ich die Finger von diesem Wunsch. Mit meinem Ablenkungspotential würde ich ziemlich schnell getrocknet auf der Fensterbank im Strandhaus landen. So komme ich zurück auf das, was ich bin: ein Mensch mit einem Bewusstsein über die Dinge, die in mir stattfinden oder mich umgeben. Doch bin ich wirklich so anders als der kleine Seestern?

Mein Universum besteht ebenfalls aus einem Etwas, das mich umgibt und ich meine nicht die Luft zum Atmen. Es sind die Energien. Der riesige Unterschied liegt nicht in der Andersartigkeit des Elementes, sie liegt in dem Bewusstsein, das wir hoffentlich besitzen und der Seestern wahrscheinlich nicht. Er stellt nichts in Frage, sucht nicht nach Gründen und denkt nicht über Probleme nach. Er lebt in einer Fülle, die er nicht sieht und besitzt trotzdem das Vertrauen, dass immer alles da sein wird.

Und wir? Was stellen wir mit unserem tollen Ding, das sich „Bewusstsein“ nennt, an? Eigentlich sollte es dafür eine Gebrauchsanleitung geben, denn wie oft produzieren wir mit diesem Ding einen gedanklichen Mangel? Das hört sich dann an wie: Wir verdienen nicht die Umstände, wir werden die Aufgabe nicht meistern, wir hatten nie Glück oder einfach, die Welt ist schlecht und wird uns niemals in unseren Vorhaben unterstützen, der Beweis läge dann in der Vergangenheit. Ohne große Mühe zaubern wir mit unserem eigenen Kopf das Chinesische Abgrenzungsbauwerk direkt vor unsere Nase. So etwas nennt sich unsachgemäße Nutzung!

Es gibt tausend Beispiele für diese Art des Gebrauchs unseres Bewusstseins: Der Einen wurde in frühester Kindheit gesagt, dass sie nicht singen könne, seitdem wagte sie keinen Ton, obwohl es viele Momente in ihrem Leben gab, die sie unheimlich gern singender Weise verbracht hätte. Der Andere fing irgendwann mit einem Hobby an, das ihm überhaupt nicht lag und brach es ab; die Freizeitbeschäftigung danach war auch nicht die glückliche Wahl; seitdem glaubte er, nichts richtig lernen zu können, da er so oft Begonnenes immer wieder abbrach. Er probiert im Moment seine Begabung aus und ich hoffe so sehr, dass seine Mauer an irgendeiner Stelle bröckelt und er dahinter schauen kann. Wieder eine Andere träumt von einem Haus am See, wohnt aber im Moment in einem Hochhaus, dessen Flure in der Nacht so dunkel sind, dass sie nur in der Helligkeit nach Hause gehen mag. Sie kann sich nicht vorstellen, irgendwann in einem finanziellen Überfluss zu leben, da es in ihrer Familie schon immer nur Armut gab. Sie belässt es bei dem Traum, denn wie soll es gerade in ihrem Leben eine Änderung geben? Wieder ein Anderer sieht sich selbst als ein Star in der Kunstszene, träumt die Farben in außergewöhnlichen Kombinationen und besitzt mit seinen Vorstellungen den Schlüssel zum Tor in diese besondere Welt, doch seine Eltern finanzieren nur das Jurastudium. Ich hoffe sehr, jemand nimmt ihn an die Hand und zeigt ihm die Möglichkeiten des Lebens. Es sind monströse Hindernisse von Hand gebaut und vom Kopf als ein Ende des Weges akzeptiert.

Angenommen, ich übernähme das Denken des Seesterns und vertraue darauf, dass mich alles umgibt, was ich benötige. Ich immer nur zugreifen brauche, denn Leben schenkt, wenn du den Weg offen hältst. Als Mensch könnte ich heute beginnen, meine Zweifel als solche zu erkennen. Ich könnte beginnen, darüber nachzudenken, was ich für meinen kleinen oder großen Traum brauche. Was wäre der erste winzige Schritt? Könnte ich ihn genau in dieser Minute beginnen? Obliegt es mir nicht selbst, Hammer und Meißel in die Hand zu nehmen und eine Öffnung ins Mauerwerk zu schlagen? Was werde ich sehen?

Soll ich es verraten? Ich glaube, ich brauche es nicht, denn du hast dein Bild schon vor Augen.