Ukemi

Es braucht Mut, es braucht Vertrauen, es braucht ein klein wenig Geschmeidigkeit und vor allem: Es braucht stetes Üben

Ukemi

Es ist eine Bezeichnung aus dem Japanischen, die im Aikido in erster Linie jegliche Art des Abrollens einschließt, doch bei näherer Betrachtung weitere Inhalte umfasst. Es leitet sich von dem Wort „ukeru“ ab, das mit „empfangen“ übersetzt werden kann[1]Das Internet informiert den Leser mit „jap. 受け身, empfangender Körper“[2].

Es ist eine gewagte Angelegenheit mit unserem westlichen Verständnis die Tiefen eines japanischen Wortes ausloten zu wollen, doch meiner Ansicht nach geben Worte nicht nur eine beschreibende Tatsache wieder, sondern auch Empfindungen, Gefühle, Bilder und Erinnerungen. In dem Moment der Nutzung stülpen wir unsere Vorstellungen über das fremde Konstrukt, verinnerlichen es auf unsere Art und Weise und geben es zurück ins Weltgefüge. Ich bin mir dessen bewusst und stelle deshalb meine Betrachtung lediglich als eine Interpretation in den Raum.

Deshalb benenne ich meine Überlegungen neu, etwas verspielt, mit

Ukemi – eine runde Sache

Am ersten Wochenende des hier im Norden schon kühlen und grauen Novembers erhellten sich unsere Aikidoka-Gemüter durch das Wissen, einen spannenden Seminartag vor uns liegen zu haben. Sonja Sauer (3. Dan Aikikai) aus Duisburg besuchte Alfred Haase (5. Dan DAB, Bramfelder Sportverein) in Hamburg, um anschaulich und konzentriert mit den Teilnehmern die Themen „Ukemi“ und „Kontakt“ zu erarbeiten: Ein perfekter Anstoß für die folgende Betrachtung.

In den meisten Fällen nutzt Uke die Möglichkeit einer Rolle, um sich sicher und sanft aus der Reichweite Nages entfernen zu können oder einen eventuell schmerzhaften Aufprall abzufangen. So ist es wortwörtlich ein Teil seiner „Rolle“, die er in dem Miteinander-Trainieren spielt. Denn dies ist es: ein Miteinander, ein Duett der absoluten Achtsamkeit. Zwei Aikidoka stehen sich gegenüber, fixiert auf das gegenseitige Erscheinungsbild: Wo sind die Hände? In welchem Winkel stehen wir mit welcher Fußstellung? Besitze ich die volle Aufmerksamkeit meines Trainingspartners? Der prüfende Blick gleitet sekundenschnell über den Körper des vor mir Stehenden, um schließlich dessen Wachsamkeit in seinen Augen zu wecken. Von hier aus beginnt der besonders intensive Moment der Zusammenarbeit. Es ist das konzentrierte Gegenüberstehen, das gegenseitige Einschätzen, das Wahrnehmen eines Lächelns, um sich dann mit Vergnügen in ein gemeinsames Unterfangen zu begeben. Hier entsteht Kunst am lebenden Objekt! Diese liegt nicht nur in den runden Bewegungen der harmonischen Ausführungen; diese Kunst liegt in der Tatsache verborgen, dass Nage und Uke sich auf einer Ebene gegenseitig bedingen. Nage nimmt die Energie des Angreifers auf und leitet diese mithilfe einer Technik an seinem Körper vorbei; Uke empfängt dafür die Technik, die ihm hilft, seine entfesselte Energie ohne Schaden auslaufen zu lassen.  Es zeigt sich somit einer der ersten Aspekte des Ukemi: Es verbindet. Es ist eine Interaktion auf Augenhöhe mit einem hohen Anspruch auf die Qualität der Handlung.

Genau diese Qualität lässt sich noch genauer betrachten. Sonja wies auf dem Seminar immer wieder darauf hin, wie wichtig sie die Handhabung des Ukemi im Sinne der Handlung als solches sieht. Uke sollte sich nicht in die Rolle werfen, um dann mit der dadurch aktivierten Energie davon getragen zu werden. Eine Übung der Achtsamkeit: Nicht die Rolle trägt mich davon, sondern ich begebe mich kontrolliert in die Bewegung, die ich auch mitunter zu jedem gewählten Zeitpunkt stoppen und einfrieren lassen könnte. Dies ist eine Herausforderung an die eigene Körperkontrolle! Dadurch offenbart sich ein weiterer Aspekt: Ukemi kontrolliert. Es beendet zudem eine Technik des Partners und markiert durch das Wiederaufrichten und Zuwenden einen Beginn für einen neuen Angriff.

Wenn ich Ukemi unter dem Blickwinkel des „Empfangens einer Technik“ betrachte, so ist damit nicht gemeint, als Spielball Nages zur Verfügung zu stehen. Im spielerischen Miteinander kann dies mit Sicherheit geschehen und macht einen Teil des Vergnügens aus, doch inhaltlich lässt sich etwas Anderes erfassen. Bei einem Fass-Angriff (katate-tori) z.B. legt Uke die gesamte Hand, vom äußersten Finger bis zum Ende des Handballens, an das gegnerische Handgelenk. Der Kontakt ist vollkommen, wenn bildhaft gesehen die Vorstellung eines Saugnapfes nicht so weit hergeholt erscheint. Dieser besondere Kontakt ermöglicht beiden Kämpfern das Erspüren des Zentrums seines Gegenübers im vollen Umfang. Trainiere ich als Uke z. B. mit einem erfahrenen Aikidoka, so erspüre ich die Wirkung einer Technik und bekomme dadurch einen direkten Eindruck, wie sich diese anfühlt.[3] Diesen Eindruck wird sich mein Körper merken, um schließlich bei einer zukünftigen Ausführung der gleichen Technik das Gelernte wiederzugeben. Eine weitere Facette: Ukemi entwickelt.

Eine Rolle, egal auf welche Weise ausgeführt, lässt sich allein im stillen Kämmerlein üben, doch ein Ukemi im Aikido benötigt einerseits einen Nage mit einer Erwartung, die sich auf seinen Uke richtet und andererseits einen Uke mit der Bereitschaft, sich auf die Bewegung des Partners einzulassen.  Die Verbindung lässt beide Trainierende zu einer Einheit wachsen, die in der Summe größeren Raum bietet und das Gegebene doppelt entlohnt. Die Kontrolle führt die Energie in eine Struktur, die nicht nur Halt verspricht, sondern auch gibt. Letztlich bietet die mögliche Entwicklung das größte Potenzial. Auf eine spielerische Art und Weise vermag die Kampfkunst Aikido das Leben in seinem wahren Kern treffen:

Sind wir nicht alle hier, um uns jeden Tag ein kleines Bisschen zu verbessern und dem nahe zu kommen, was wirklich in uns steckt?

 

[1] Bodo Rödel, Aikido Grundlagen, 3. Aufl., Verlag, Aachen, 2016, 285.

[2] Wikipedia – Die freie Enzyklopädie, Tori und Uke, zu finden unter https://de.wikipedia.org/wiki/Tori_und_Uke, abgerufen am 12.11.2017.

[3] R. M. J. Atkinson, Discovering Aikido: Principles for Practical Learning, zu finden unter http://discovering-aikido.com/index.htm, abgerufen am 12.11.2017.