Fundament

Still lag die Halle da, niemand sah uns zu und keinerlei Etikette forderte ihren Tribut. Vier Reihen rot-grüner Matten zeigten uns den Rahmen für die selbst gewählte Übungsstunde. Der weiche Untergrund lud zum Herumtollen und freiem Bewegen außerhalb des Üblichen heraus. So wirbelten wir unbeobachtet herum, warfen und sprangen oder verharrten einfach vor Anstrengung atmend auf dem Boden; niemand wartete oder erwartete, niemand betrachtete oder prüfte und niemand legte den Verlauf des Handelns in irgendeiner Weise fest; es war ein Wiederholen der fast vergessenen Nachmittage der Kindheit, die sich in einer wunderbaren gedankenfreien Zeit befanden.

Vielleicht lag genau hier das Verborgene, warum solche freien Stunden ihren Reiz besaßen. Sie verdeutlichen den wesentlichen Charakter der Kampfkunst, der über die körperliche Eingrenzung hinaus, komplexe Abläufe mit den Weiten des Geistes verbindet. Innerhalb unseres Körpers rangeln Gegensätze, die unterschiedlicher nicht sein können und trotzdem nicht ohne einander können.

Die offensichtlichen Schwerpunkte einer Technik mögen an zwei Händen abzählbar sein, doch es ist nicht die Vielzahl der zu lernenden Aspekte, die den vollen Umfang einer Trainingsstunde ausfüllen. Das eigene Wesen muss in der Lage sein, Kraft mit einem Nachgeben zu verbinden, Aggressivität in Harmonie zu verwandeln und Hartes mit Weichem zu umschlingen[1]. Nur so können sich überhaupt die Prinzipien erfüllen, die Aikido für den Ausübenden bereithalten kann.

Bin ich auf der Matte, wird im Grunde jeglicher Aspekt meiner Möglichkeiten gefordert. Wenn ich den gestrigen Abend betrachte, dann weiß ich, dass gerade genau dieser Punkt den Frohsinn, das Ansteigen der Energien und das spielerische Miteinander herausfordert. Ohne sich dessen bewusst zu sein, führen wir uns selbst mit dem Training in eine Ganzheitlichkeit hinein. Wir wachsen, ohne es zu bemerken.

Es ist nicht von ungefähr, dass Aikidoka bis zum 1. Dan die Ausführungen der vollständigen Techniken erlernen, diese gänzlich verinnerlichen und sich dann mit dem weiteren Fortschreiten des Trainings von den Vorgaben entfernen, um etwas Neues zu entdecken. Jede Technik ist gleich einem riesigen Stein im alten Ägypten, der mühsam mit den Flüssen transportiert, auf Baumstämmen gerollt und mit Manneskraft gezogen seinen Platz finden musste. Allein durch das Gewicht des Materials fügte sich mit der Zeit ein Gebäude zusammen, das noch heute seinesgleichen sucht. Der einzelne Stein löst sich dann in der Betrachtung des Kunstwerkes auf.

So fügen wir Technik um Technik unserem Können hinzu. Irgendwann betrachten wir diesen Schatz und sehen den Zugang zu etwas sehr Kostbarem,

uns selbst.

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Trainingsort: http://aikido-kaltenkirchen.de/

[1] Michael Murphy, Der Quanten Mensch, Wessobrunn, 1994, S. 173