Seeungeheuer

Der See ist überschaubar. Wenn ich wollte und die Algen in der Mitte nicht so besitzergreifend unheimlich lang wären, dann könnte ich ihn innerhalb von fünfzehn Minuten durchschwimmen. Für die Umrundung in einem gemächlichen Schritt brauchte ich ungefähr eine halbe Stunde. Die flotte Variante brauchte zwanzig Minuten. Einen kleinen Moment dachte ich darüber nach, die Zeit für einen Lauf zu messen, doch ehrlich gesagt, war mir dafür zu warm.

An dem Steg kam ich nun das dritte Mal vorbei. Niemand kreuzte bisher meinen Weg, abgesehen von einer Kompanie roter Riesen-Ameisen. Heute hatte ich frei oder besser gesagt: ich nahm mir frei; von Allem und Jedem. Ich erzählte niemandem, wo ich war. Ich erzählte niemandem, wie lange ich weg wäre und ich erzählte niemandem, was ich tun wollte. Ich nahm Urlaub für einen Tag.

Der See lag in der prallen Sonne und der Himmel fiel fast gleißend in seine Tiefen. Büsche und einzelne Bäume säumten den Weg am Rande des Ufers, gaben aber keinen Schatten. Das machte nichts. Ich wollte die Natur pur, wenn es sein musste mit Sonnenbrand. In meinem Rucksack lag die Verpflegung für den gesamten Tag, genug Kaffee, Wasser und Weintrauben für zwischendrin, zwei Bücher und natürlich etwas zum Schreiben.

Als Unterlage diente eine kleine zusammengefaltete Decke; sie war weich genug, um eine längere Zeit darauf zu verbringen. Ich zog meine Sandalen aus, krempelte die Hosenbeine hoch und hielt erst einmal eine Weile meine Füße in das noch relativ kühle Wasser. Kleine Wasserflöhe stoben zu allen Seiten. Ich legte meine Handrücken auf meine Oberschenkel und schloss die Augen. Genau das hatte ich gesucht! Stille um mich herum, auch wenn sie keine absolute war. Ich brauchte sie, um Ruhe in mir selbst zu finden. Mein Alltag hatte sich bereits viel zu nah an mich heran geschlichen; ich fühlte das Fordern der Umstände. Ein Davonkommen war kaum möglich. Ich wollte wieder eine Distanz schaffen, ich wollte die eingerostete Zugbrücke zur Außenwelt wieder bewegen können.

Die Abkühlung tat gut. Direkt am Steg verlief der See noch so flach, dass meine herabhängenden Füße den Boden gerade eben noch berühren konnten. Ich öffnete meine Augen und stützte meine Ellenbogen auf den Beinen ab, um ins Wasser zu schauen. Die Sonnenstrahlen glitzerten am Rande der kleinen Wellen, die ich mit meinen Füßen verursachte; jede Bewegung ergab eine andere Farbe, einen anderen Funken. Wenn es nicht Wasser wäre, dann könnte es der Zündstein eines Feuerzeuges oder das Abbrennen der Lunte einer Rakete in der Silvesternacht sein.

Ich setzte mir die Sonnenbrille auf, damit ich das Wasser besser durchblicken konnte. Am Boden lagen eine Menge kleiner Steine. Pflanzen wuchsen am Rand des Steges. Kleine Insekten schienen sich gerade hier besonders wohl zu fühlen. Direkt an meinem rechten Fuß wuchs ein Gras, das den Steg von der Seite überwuchern wollte. Prüfend nahm ich eines der langen Blätter zwischen meine Finger. Es besaß eine dunkelgrüne Farbe, die anscheinend das Flirren des Wassers nachahmte, es schimmerte ein klein wenig. Autsch! Unvorsichtigerweise hatte ich am Rand des Blattes gezogen. Ein kleiner Schnitt blieb zurück. Nachdenklich rieb ich meinen Finger an der Stelle. Unangenehm. Was faste ich sie auch an. Ich würde ja auch nicht wollen, dass irgendwer mich einfach berührte!

Vor einigen Tagen las ich über einen älteren Versuch in einem neurologischen Labor. Ein Mitarbeiter wollte sich in einer freien Minute einen Scherz erlauben und schloss seinen seit Jahren am Schreibtisch stehenden Gummibaum an ein Gerät zur Messung von Gehirnströmen an. Er konfrontierte seine Zimmerpflanze mit guten Worten, mit einer Schere oder auch mit dunklen Bildern von zerrupften Pflanzen in seinen Gedanken. Das Ergebnis ließ ernsthafte Untersuchungen folgen. Dieser Staubfänger, der bereits unzählige Male zu wenig Wasser bekam und dafür das eine oder andere Mal die kalten Reste des Kaffees schluckte oder auch viel zu oft in der prallen Sonne stand, dies Geschöpf zeigte dem Mitarbeiter mithilfe des Gehirnstrommessers welch Entsetzen in ihm möglich war. Mittlerweile ist es kein Geheimnis mehr, dass Pflanzen keine Möbelstücke sind, sondern als wirkliche, fühlende Wesen zu verstehen galten. Trotzdem wurden sie nicht so behandelt. Ich nahm mich davon nicht aus.

Wenn es um Vergeltung ginge, wären wir Menschen schon längst vernichtet. Pflanzen sind friedvoll und ohne Harm. Vorsichtig strich ich über das Blatt und schaute auf. Mit einem neuen Fokus im Kopf betrachtete ich die Umgebung. Das Grün der Bäume und Büsche erschien mir intensiver. Ich spürte die Präsenz. Ich hörte das Rascheln der Blätter, ich hörte das Schleifen herunterhängender Äste über dem Boden, ich sah die Farben der kleinen Wegblumen als ein Lächeln, das nur alleine mir galt.

Welchen Nutzen hatte ein Wissen, wenn ich es nicht umsetzte, wenn ich es lediglich als kurios, phantastisch oder einfach interessant abtat und wieder den normalen Trott beschritt? Warum begegneten mir schließlich Dinge oder warum entstanden Gedanken in meinem Kopf? Es ging mit Sicherheit nicht darum, mir meine Erdenzeit zu verschönern oder bunt zu gestalten. Es ging darum, Erkanntes zu verarbeiten und schließlich von hier aus Neues zu entdecken.

Wenn ich wirklich meine Gedanken ernst nehmen würde, wenn ich wirklich mein Wissen als Richtschnur für mein eigenes Verhalten annähme, dann müsste ich eine ganze Menge ändern! Nun gut, das war der Grund, warum ich hier war. Ich wollte wieder ein Stück näher zu mir selbst rücken. Ich holte tief Luft und stellte mich auf den Steg. Ich blickte um mich herum. Immer noch war ich ganz alleine hier. Niemand schien diesen wunderbaren Ort zu kennen oder einfach in diesem Moment hier sein zu wollen. Meine Handinnenflächen nahmen die Wärme der Sonne auf. Ich schloss meine Augen und spürte das Leben um mich herum. Ich war inmitten von mir wohlgesonnen Geschöpfen. Sie ließen mich so, wie ich war, mit oder ohne Erkenntnis. Konnte ich nicht das gleiche geben? Sie boten mir ein friedvolles Miteinander. Mein Blick fiel wieder auf den See, den ich vorhin mit so viel Skepsis betrachtete.

Nur einen kleinen Moment dachte ich über das nach, was ich tun wollte. War das nun wirklich notwendig? Unbedingt! Wollte ich dazu lernen oder nicht? Ich nickte, als spräche ich mit einer mir gegenüberstehenden Person. Langsam zog ich meine Jeans aus. Als ich mich auch von meinem T-Shirt trennen wollte, stand mir meine konservative Sicherheitshaltung im Weg: was wäre, wenn irgendein Spaßvogel meine Kleidung entwenden würde und ich müsste mit Nichts am Leib wieder nach Hause finden? Also ließ ich meine Unterwäsche und mein T-Shirt dort, wo sie waren und fand mich trotzdem unglaublich, denn langsam schritt ich vom Steg ins Wasser. Mein Herz klopfte. Diesmal fühlte sich der Boden gänzlich anders an, der Blickwinkel schien sich verschoben zu haben. Ich sah zurück zur Pflanze am Stegpfosten und strich nochmals an ihrem Blatt entlang, vorsichtig darauf bedacht den richtigen Winkel zu finden. Diesmal schmeichelte mir das Blatt und ich wusste warum.

Langsam ging ich in das Wasser. Jeder Schritt fühlte sich kühler an, da die Tiefe immer mehr zunahm. Mein Puls wurde schneller. Lernen ist nicht leicht. Lernen musste manchmal Hindernisse überspringen. Diesmal war ich selbst das Hindernis. Nun konnte ich den Boden nicht mehr sehen, nur noch fühlen. Ich spürte etwas an meinen Beinen; vermutlich irgendwelche Fische oder sich bewegende Pflanzen, die durch meine Schritte durcheinander gewirbelt wurden. Ich konnte kaum atmen, nicht, weil es zu kalt wäre oder weil es mir körperlich schwer fiele. Meine Gedanken schienen sich gleich einem Tsunami aufzubauen: Vielleicht gab es doch irgendwelche Pflanzen in der Mitte des Sees, die dich umschlingen und gleich einer Riesen-Krake nie wieder losließen und nach unten ziehen würden!

So ein Quatsch! Wenn ich wirklich an das Gute in den Pflanzen um mich herum glaubte, weil ich in ihnen lebende Geschöpfe sah, die mir nichts tun wollten, warum dann die nackte Angst?

Weil…, ich wusste es einfach nicht! Langsam musste ich schwimmen. Das fühlte sich ein klein wenig besser an. Wenn ich schwamm, dann kam ich voran, dann war die andere Seite des Sees nicht mehr weit. Ich war nicht die beste Schwimmerin. Brustschwimmen klappte, Rückenschwimmen auch, doch Kraulen hatte ich nie gelernt, das machte nichts. Ich würde mich über Wasser halten können. Der Puls beruhigte sich aber nicht. Meine Güte, ich war doch keine zehn Jahre alt!

Wut machte stabiler, sie machte weniger verletzlich. Ich drehte mich auf den Rücken, da meine Atmung unbedingt der Meinung war, meinem Puls folgen zu müssen. Das Rückenschwimmen verbrauchte weniger Kraft. Außerdem konnte ich so besser nachdenken. Die Wut kam nicht, weil ich mich selbst nicht verstand, sondern WEIL ich erkannte, dass ich Überzeugungen besaß, die mit meinem Tun nicht zusammen passten. Bisher hatte ich solchen Menschen nur mit Unverständnis begegnen können. Ich war kein Stück besser! Kein Wunder, dass ich der Meinung war, ich müsste wieder zu mir selbst finden! Ich hatte mich unbemerkt verloren. Mein Denken und mein Tun hatten im Moment überhaupt nichts miteinander zu tun. Es wurde Zeit, dies zu ändern.

Am anderen Ende des Sees angekommen, wrang ich meine Haare aus und fühlte mich zufrieden. Ich hatte ihn durchschwommen! Ich wusste nicht, wie lange ich dazu gebraucht hatte. Es war egal. Ich wusste, dass ich nun nach Hause gehen konnte.

Morgen werde ich wieder kommen.

 

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Anm. z. Titelbild: Ein Hobbit-Platz in Neuseeland