50 %! Einen kleinen Moment halte ich in meinen Bewegungen inne. Die Zahl schwebte förmlich in der Luft, als wäre es ein Erinnern, das sich dem eigenen Fokus in den Weg stellte. Fünfzig war die Hälfte von 100 und entsprach gerade jetzt entweder der Seite des Verteidigens oder der des Angreifens.
Einen Moment musste ich kichern, gerade versank vor meinem inneren Auge die Zahl 50 zwischen den blau-grünen Tatamis und vergaß das angehängte Ausrufezeichen mitzunehmen. So was passiert: Irgendwo im Tun drängelte sich eine Tatsache einfach in den Vordergrund, als säße sie selbstzufrieden auf der Schulter, um den in Bewegung geratenen Gedanken genau folgen zu können.
Gut gelaunt zwinkerte mein Gegenüber zurück, doch dann sammelte sie sich mit ihrer Konzentration, die sich auf ihrem Gesicht wiederfand. Völlig gerade blieb sie in ihrem Lot, aber nicht unbeweglich, eher gelassen aufrecht. Sie senkte die Hüfte, als sei sie verwurzelt mit Mutter Erde und fand eine Verbindung zur Mitte. Mit dieser Wahrnehmung verblasste die Präsenz der Technik, denn die Zentrierung entpuppte sich als eine Art Säule des Herakles. Ich als Angreiferin musste mich herum bewegen, als sei ich eine Besucherin, die verzweifelt die Tür suchte.
Obwohl ich in dieser Sekunde ganz bestimmt die schlechtere Ausgangsposition besaß, war dies kein Grund, um sich aufzugeben. Wie leicht knickte sich der Oberkörper ab, wenn die Achse durch den Trainingspartner verändert wurde und wie leicht erlag aufgrund dessen der eigene Körper den Fliehkräften, die schließlich einen noch so kraftvollen Angriff einfach zerfledderten!
Selbstverständlich könnte ich mir als Angreiferin ebenso die Qualität des Grundes aneignen. Selbstverständlich könnte ich es der Verteidigerin damit schwer machen und mich, gleich einem Überfallkommando, über jede mir mögliche Lücke triumphierend herfallen. Doch hey, genauso selbstverständlich wäre das Empfinden eines Ungleichgewichtes im Miteinander, das ein Wachstum in jeglicher Hinsicht stoppt.
Der angreifende Part beinhaltet nicht, dass bei einer beginnenden Verteidigung jeglicher Strukturwillen zurückgelassen wird, da der Angriff vereitelt wurde. Ich beuge mich nicht über mein Zentrum hinweg oder verliere mein Lot und ich biete mich auch nicht als Opfer dar, das lediglich darauf wartet, mit der Nase auf der Matte zu landen.
Gesagt, getan, denn nun liege ich trotzdem mit der Nase auf der Matte und mein leises Kichern holte mich wieder ein. Ein irgendwo gelesenes Zitat fiel mir beim Aufstehen in den Sinn:
Prinzessinnen richten ihr Krönchen, Königinnen ziehen ihr Schwert!
Zwei eigenwillige Qualitäten treffen aufeinander! Einerseits ist es das Verbinden mit der Erde, das standfeste So-Sein, das mit einer aus sich heraus entstehenden, leicht empfundenen Kraft alles zu bewegen vermag.
Und andererseits gibt es die bewegliche Zentriertheit, die leicht verkannt, als sei sie die Rückseite des Mondes, oftmals nicht wahrgenommen wird. Mit ihr verliere ich als Angreiferin nicht die Hoheit über die eigene Person. Denn in ihrem Kleide gebe ich all meine Aufmerksamkeit, all meine Sinne und meinen inneren Fokus. Ich richte mich auf das aus, was da kommt.
Der angreifende Part ist eine Aufforderung, ein Berühren und letztendlich ein Geschenk für den Verteidiger. Ich biete ihm die bestmöglichen Trainingsbedingungen, um ein Verstehen und auch ein Erfühlen des eigenen Tuns zu ermöglichen.
So verhelfen beide Qualitäten beiden Seiten, sich je nach Situation und Energie zu bewegen. Es sind zwei wesentliche Verhaltensweisen, die ihren Sinn besitzen, aber auch mit ihren Begrenzungen leben müssen. Denn jeder auf der Matte kreiert und ist damit ein unsagbar wichtiges Puzzlestück für ein buntes, aufregendes Bild!
So, so schön!

PHOTO by Lucas Calloch on Unsplash
Anm. z. Titel:
Wenn ich mein Tun verstehe, verstehe ich mich selbst. Stück für Stück, Flamme für Flamme, und die Laternen des Dos zeigen ihr Licht …
Ist ein Ewiges Patt nicht die beste Art, gemeinsam eine Stufe höher zu klimmen?
(Erinnert mich auch ein wenig an den Philosophen Karl Jaspers, der im Atomaren Patt die Sicherung des Friedens und Fortschreitens sah.)
LikeGefällt 1 Person
So kann man es auch sehen. Oft liegt der Schwerpunkt auf dem Erlernen der Techniken und man vergisst leicht, dass die Seite des Angreifers, die der Verteidigende benötigt, um seine Techniken zu lernen, ebenso ein sehr wichtiger Lernpart ist. Ein Gleichgewicht ist da wirklich erstrebenswert! Danke Dir, Werner! Lieben Gruß, Christine
LikeLike
Den Angriff als „Geschenk“ an die angegriffene Person, – mit dieser Bewertung tue ich mich schwer.
Beim Aikido: Ja.
Aber „übersetzt“ auf das sonstige Leben setzt diese Bewertung aus meiner Sicht voraus, dass beide Personen ein relativ hoch entwickeltes geistig-seelisches Niveau besitzen.
Wenn es Angreifern (was leider im „täglichen Leben“ sehr oft der Fall zu sein scheint) hingegen nur um Zerstören wollen und / oder Recht haben wollen geht, um Beweisen wollen, der oder die „Stärkere“ zu sein, geht – dann nützt mir mein vergleichsweise hoch entwickeltes Verständnis eigenen Tuns wenig. Dann bin ich sozusagen an dem Punkt, wo ich tatsächlich das Gefühl habe, da helfe nur noch das „Schwert ziehen“, weil die Gegenseite ihre Angriffe ansonsten immer weiter fortführt bzw. immer wieder neu startet.
Aber eigentlich bin ich überhaupt keine Freundin des Schwertes und des damit verbundenen Blutvergießens … .
LikeGefällt 1 Person
Es ging mir um die Seite des Angreifers beim Aikido auf der Matte. Ich bin da ganz mit Dir, dass die Wertungen und Beschreibungen nur schwer in das normale Leben zu ziehen sind. Ausgenommen ist da in meinen Augen die Tatsache, dass es wichtig ist, sich auch in einer unterlegenen Situation nicht aufzugeben, bei sich zu bleiben und nicht aufzuhören, nach einer Verbesserungsmöglichkeit für die schlechte Situation zu suchen.
Die Arbeit mit dem Schwert ist beim Aikido ein Weg, um die Prinzipien zu erfahren. Es ist dort leichter die eigene Arbeit zwischen Körper und Geist zu verstehen, es zeigt praktische Ergebnisse, die für den Verstand wesentlich leichter nachzuvollziehen sind. Es ist somit ein Ausarbeiten der eigenen Fähigkeiten. Vielen Dank für Deine Worte! Lieben Gruß, Christine
LikeGefällt 1 Person
Vielen Dank für deine liebevolle Antwort, liebe Christine! Ich bin von deinen Texten ja immer sehr fasziniert, weil du für mich die „innere Seite“ der Kampfkunst beschreibst. Das, was aus meiner Sicht die „Kunst“ ausmacht. Nach meinem Eindruck wird das leider in vielen „Kampfkunstschulen“ vernachlässigt – und den Schülern oft stattdessen beigebracht, wie sie den „Gegner“ möglichst hart verletzen können.
Und das scheint mir eben auch im täglichen Leben leider oft der Fall zu sein. Zu viele scheinen zu meinen, „Körperstärke“ und „Härte“ wären Werte.
Deshalb finde ich es so schön, dass du mit deinen Texten immer wieder zeigst, dass es in der „Kampfkunst“ nicht darum geht, damit prahlen zu können, der oder die Stärkere zu sein; sondern es für beide darum geht, innerlich etwas zu lernen.
Dass man das aber eben auch wollen muss und offen dafür sein muss.
Liebe Grüße
Maren
LikeGefällt 1 Person
Liebe Maren, vielen, vielen Dank für DEINE Worte! Ich freue mich sehr! Lieben Gruß, Christine
LikeGefällt 1 Person
Eindrucksvoll beschrieben. Ist das Aikodo? Oder Katori? Ukemi kenne ich nicht.
LikeGefällt 1 Person
Es ist Aikido! Ukemi ist die Kunst zu akzeptieren, dass mein Angriff nicht vom Erfolg gekrönt ist und ich eine Technik „erhalte“. Mein Gegenüber übt die Technik aus und bringt damit meinen Körper dazu, sich auf eine bestimmte Art zu bewegen. Entweder weiche ich aus, versuche vllt einen erneuten Angriff, gehe bäuchlings zu Boden, rolle rückwärts oder vorwärts oder werde geworfen, so dass mein Kopf bei einer Rolle nicht den Boden berührt, zuerst mit dem freien Arm aufkommt und dann mit dem unteren seitlichen Rücken weiter rollt. Es war mir wichtig zu verdeutlichen, dass auch die Seite des Angreifers von großer Bedeutung ist. Vielen Dank! Lieben Gruß, Christine
LikeLike