Lemniskaten gibt es überall

Wir übten die Technik, die den Angreifer über eine Hüftseite zu Boden führt. Je nach Erfahrung ist es dann vonseiten des Verteidigers ein Führen, Fallenlassen oder Werfen und vonseiten des Angreifers daraufhin ein Fallen, Plumpsen oder Rutschen. Die Situation gestaltet sich tausendmal verschieden, da zwei Menschen mit unterschiedlichen Stabilitäten und Kapazitäten aufeinandertreffen. Das ist zwar immer so, aber hier wird es besonders deutlich.

Die Technik ist nicht ellenlang, doch gehört sie zu den Formen, die den Körper mit allem Möglichen herausfordern; so konzentrierte ich mich auf deren Eigenheiten, um sicherer in der Handhabung zu sein. Beim Herumprobieren merkte ich aber ziemlich schnell, dass sich mein Augenmerk verschob:

Denn wenn eine Hüfte im Weg steht, kommen schon Überlegungen auf, wie das Hindernis beim Fallen keinen Kollateralschaden hinterlässt. Was mache ich mit meinem ganzen Schwung des Angriffs, wie dreht mein Körper, wo bleibe ich mit meinen Händen und womit treffe ich zuerst auf?

So verbrachte ich eine ganze Weile mit der Lösung dieser Fragen. Als ich schließlich als Verteidigerin an der Reihe war, kam ich mir im ersten Moment so vor, als hätte ich mich in der vorherigen Zeit verspielt, da ich die eigentliche Technik immer noch nicht hundertprozentig umsetzte.

Verblüfft stellte ich aber fest, dass sich nun das eigene Ausführen der Technik viel einfacher durchführen ließ. Mit dem neu Ausprobierten des Angreiferparts empfand ich mein Tun als Verteidiger wesentlich klarer, als hätte ich gerade eben doch an dem Eigentlichen gearbeitet.

Ein Puzzlestück …

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Verstehe ich eine Technik wirklich, wenn ich nicht hundertprozentig weiß, was auf der anderen Seite passiert? Wenn ich nicht genau erkenne, wie ich meinen Angreifer zu Fall bringe? Was verstehe ich da wirklich, wenn mein Körper die optimale Reaktion nicht selbst umsetzen kann? Mein Wissen lässt meinen Körper bewegen, aber mein Körper zeigt mir auch, wie gut mein Wissen ist …

Als Angreiferin wie auch als Verteidigerin erfahre ich jeweils eine Kehrseite. Ich erfahre, was es bedeutet, wenn mein Gegenüber in Aktion tritt. Das hört sich so selbstverständlich an, ist es aber nicht, denn ziemlich oft hindern mich körperliche oder mentale Einschränkungen an der Ausführung meines Planes: Zögerliches Reagieren lässt das Ki versterben, Aufregung zerstreut Gelerntes im Nebel der Erinnerung und Angst zementiert die eigenen Muskeln zu Pfeilern, die den Spiralen nicht folgen mögen.

Wenn ich nicht nur lerne, wie eine Technik verläuft, sondern auch erfahre, wie sich diese anfühlt, was also mit Körper und Geist geschieht, wenn ich selbst Angreiferin bin, dann werde ich mein eigenes Tun als Verteidigerin viel klarer erkennen können. Klarheit vereinfacht immens.

Es ist ein Lernen durch Nachahmung, wobei ich nicht das rein äußerliche Kopieren meine, sondern dies körperliche Ausprobieren, um zu sehen, welches Tun mit welcher Empfindung verbunden ist; es ist die in uns wohnende mimetische Veranlagung, die uns hilft, das Bewusstsein zu aktivieren, das wir so oder so in uns tragen.

Angreifer und Verteidiger sind zwei Seiten, aber nur zusammen ergeben sie das, worum es hier geht:

Aikido.


Anm. z. Titel:

Lemniskate = liegende Acht.

Die eine Seite hat Einfluss auf die andere Seite! Wenn ich mit einem High Fall meinen Angriff beenden möchte, sollte ich wissen, wie ich sicher werfe; wenn ich vorwärtsrollen möchte, sollte ich die Probleme der Rückwärtsrolle kennen; wenn ich den Griff des Yonkyō wirklich umsetzen will, sollte das Gefühl der blockierten Schulter und die Auswirkungen auf einen meiner Unterarmnerven nicht fremd sein … jede Aktion braucht die Erfahrung der anderen Seite …

Oh man, ich hab echt viel zu tun!