Betrachtung mit Folgen

Differenzen gibt es überall. Wir können sie in unseren Gedanken finden, in der Realität oder in der ganz persönlichen Wirklichkeit. Egal wie, sie beeinflussen uns mit allem Drum und Dran und verdeutlichen den Unterschied zwischen zwei Dingen …

Zum zigsten Male wiederhole ich für mich allein die Eingänge und Abfolgen von Techniken, die für meine nächste Prüfung wichtig wären und begreife nicht wirklich, warum es mir so holprig erscheint und nur zäh vorangeht. Ich übe ja nicht an Schillers Glocke, die ich bis morgen ohne Lücke vortragen müsste.

Natürlich könnte ich auch sagen, ich bin halt wie ich bin. Ich verliere mich zu gern im Detail und vergesse deshalb den Rest um mich herum, bin sozusagen im Bällebad der aufregenden Dinge und möchte da eigentlich gar nicht wieder raus.

Nun ist es aber wichtig, diese Formen zeigen zu können: Bei einer Prüfung wird ein japanischer Begriff genannt, der die Art des Angriffs und die ausführende Technik vorgibt und ich als Prüfling sollte das dann aus dem Ärmel schütteln können. Ist man gut vorbereitet, ist das im Fokus stehen gar nicht mehr so schlimm, weil die Antworten schließlich in einem selbst ruhen, als läge dort eine integrierte Kladde zum Ablesen. Soweit die Theorie …

Praktisch gesehen, muss ich mich wohl mit den Gegebenheiten auseinandersetzen: Der ständig neugierige Blick hinter die Kulissen lenkt mich ab! Ich sollte eigentlich wissen, der erste Schritt beim Lernen von Techniken liegt in der eigentlichen Form, Feinheiten bauen darauf auf.

Doch gerade diese Feinheiten hatten es mir angetan und ich blieb immer wieder an ihnen hängen: wie genau halte ich die Hand, was möchte ich überhaupt mit der Führung bewirken? In welchem Winkel muss ich mich zum Uke stellen, um die beste Ausgangslage zu besitzen? Hab ich eigentlich das Zentrum meines Gegenübers, wo treibt sich gerade das meinige herum? Was machen die Füße ganz genau? Sind meine Arme viel zu nah an meinem Körper? Und vor allem, wie fühlt sich das Ganze an? Wo ist das spiralige Ki innerhalb der Bewegung? Oder in welche Richtung entschwindet der Impuls des Angreifers?

Und zack, eigentlich will ich mal eben kurz diverse Formen eines Angriffes durchgehen, schaffe aber mit meinem Streueffekt nicht mehr als zwei.

Hmm, meine Hände bewegen sich mit dem Körper in Kreisen und irgendwie bin ich nicht bei der Sache, weil ich gedanklich auf meiner eigenen Mauer hocke, die mich von einem einfachen notwendigen Auswendiglernen abhält …

sie bröckelt … also die Mauer …

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Das Verstehen von Dingen, von Menschen und vor allem dem eigenen Wesen ist eine riesige Aufgabe. Natürlich ist es jedem unbenommen, genau das in der eigenen Bucket List ans Ende zu stellen oder es überhaupt nicht auf diese zu setzen, aber ich glaube, wir kommen nicht umhin, genau diesen Punkt ein wenig zu betrachten, wenn wir uns dem wirklich Interessanten nähern wollen.

Wenn ich einen Angreifer verstehen will, so muss ich seinen Angriff und seinen Willen dazu nachvollziehen und das genau ermöglicht mir dann ein Handeln, das die Situation gestaltet. Der andere wird durch mich dazu gebracht, keinen Angriff mehr starten zu wollen. Das ist mein Ziel. Ich möchte, dass mein Gegenüber damit aufhört, mir schaden zu wollen. Wenn diese Entscheidung nicht von dem anderen getroffen werden kann, dann obliegt sie mir.

Das ist eine sehr klare Vorgabe, die es mir möglich macht, in meinem Handeln die Quintessenz und damit die Richtung zu verstehen … Das ist die Welt des Außen und ein Spiegel des Prinzips …

Und das selbst zu gestaltende Prinzip beim Lernen von Techniken enthält nun mal Form und Funktion. „Form follows function“ ist bereits in der Welt des Designs und der Architektur als ein großes Missverständnis korrigiert worden. Es suggeriert eine unterschiedliche Wertigkeit, die so nicht stimmt. Die Funktion ist nicht wichtiger als die Form. Denn Form ist nicht nur die äußere plastische Gestalt, sondern auch eine dem Inhalt entsprechende Gestaltung, dort entsteht Ästhetik.

Ästhetik kommuniziert Eigenschaften. Zudem beeinflusst sie auch meine Bewertung der nützlichen Umsetzung und vor allem löst sie Emotionen aus. Ästhetik ist nicht nur ein schönes Bild. Sie wirkt auf uns ein, als säßen wir inmitten eines Orchesters, das Mozarts Stimmung beim Komponieren fühlbar werden lässt.

Das ist die Kunst im friedvollen Kampf. Sie zeigt mir, wo ich zu beginnen habe:

in mir selbst.