Der Blick zur anderen Seite

Da stand ich nun. Paralysiert von der Aufgabe und dem Versuch, meine Gedanken irgendwie zu fokussieren. Das Gefühl, von der Lösung ziemlich entfernt zu sein, stellte sich hartnäckig in den Weg. Das war nicht schlimm, wir sind schließlich alte Bekannte; da kennt man sich, irgendwann verschwand es. Ich musste mir nur Zeit lassen.

Die Angreiferin kam von der rechten Seite mit einem Fauststoß zum Kopf, meine Hände nahmen diesen auf und ich ging etwas aus der Linie. Das war die Ausgangslage.

Ich suchte den Unterschied im Tun. Meine rechte Hand, die schützend und kontrollierend die Hand meines Gegenübers berührte, sollte nun nach vorne schneidend die Angreiferin dazu bringen, nach hinten zu fallen.

Das ursprüngliche Prinzip kennen wir vom Spielplatz: ein Wegstoßen, sozusagen ein Konter-Impuls geben. Das könnte ich auch so machen, in brenzligen Situationen wäre es bestimmt die allererste Idee, aber ich verlöre ganz schön viel. Ich verlöre mein eigenes Lot, mein Zentrum und der Schwerpunkt wäre damit sofort im hinteren Bereich, das büßt Schnelligkeit ein.

Deshalb schubsen Aikidoka nicht, sondern lassen eher das Entgegengebrachte an der eigenen Peripherie abgleiten, durchkreuzen Stabilität oder schaffen Hohlräume, die die Arbeit übernehmen. Naja, das war das, was mir mein Kopf sagte, aber der Körper schien da noch nicht so ganz angekommen zu sein.

Aus dem Schwung heraus wäre es bestimmt viel einfacher, aber es würde mir nicht helfen, das Eigentliche körperlich zu verstehen. Erklären ließ sich da so einiges, aber die Umsetzung war schon etwas ganz anderes. Ich besaß eine Vorstellung, wie es sich beim Gegenüber anfühlen müsste, schließlich kannte ich das Ergebnis von den Lehrern. Aber so oft ich auch probierte, da klaffte noch ein kleiner Canyon.

Nun gut, ich werde Brücken bauen …

Die Zusammenarbeit von Körper und Geist ist für mich das Thema im Aikido. Sich zu biegen, beweglicher zu werden oder zu rollen oder zu fallen sind ganz bestimmt auch sehr wichtige Elemente, das ist gar keine Frage. Aber die für mich wirklich spannenden Dinge, sind die Verbindungen in mir selbst. Es ist einerseits das Herauszufinden was mein Körper-Geist-Team gemeinsam in Form von Systematik, Konzentration und Fokus bewegen kann und vor allem ganz wichtig: was die Beiden zusammen Neues erschaffen können.

Es ist ein langer Weg, beide Seiten näher zueinander zu führen, jedenfalls bei mir. Im Grunde ist es einer der vielen Wege, das eigene Wesen unterhalb der Muster durch Erziehung und Leben zu entdecken und zu verstehen. Andererseits ist es einer der Wege, die Welt der Energien zu erschließen. Beides ist einfach krass aufregend!

Vielleicht ist es ein Drehen an Reglern des Gewohnten: ein kleinwenig hiervon aufdrehen und ein klein wenig davon herunter; die Flammen brennen anders und geben ein neues Licht. Vermutlich brauchen alle Dinge dieser Welt immer wieder ein anderes Herangehen, damit sie in ihrem Wesen von uns überhaupt erkannt werden können.