All die Geschichten in uns

Das 14. Jahrhundert war eindeutig speziell: bunt, fantastisch, grausam und bedingungslos. Es war eine Zeit des Handfesten, Gnadenlosen, Berechnenden, aber auch eine Zeit der Klarheit. Wenn es etwas zu tun gab, dann wurde es getan, ohne Rücksicht auf Gefühle, Gedanken oder Veränderungen; eingebrannte Muster bestimmten das Leben und die Arbeit. Wenn dies oder das vorlag, dann wurde dies oder das getan, Punkt.

Mit den Gedanken dort verweilend, springen sofort Szenen ins Bewusstsein, die aus unzähligen Filmen, Museumsbesuchen und ja, sogar aus dem langweiligen Geschichtsunterricht in der Schule kommend, auf ihre Weise präsent sind, als wären sie unsere eigenen Erinnerungen und ein fassbares Gestern:

… versunken sitze ich auf einem kleinen Hocker vor dem riesigen offenen Kamin, dessen Feuer fast dem Sonnenuntergang des endenden Tages gleicht. Rinde, Harz und Kräuter verströmen kringelnd ihren Duft und die Steinfliesen unter meinen Füßen knirschen vom Sand, den die Hunde ständig mit sich hereintragen.
… das Buch in meiner Hand wiegt schwer; dickes Leder schützt grobes Papier und bunt bemalte schnörkelige Anfangsbuchstaben verankern die lateinischen Worte fest in den Schatz meiner Erinnerungen.   
… lautes Gewusel und Rufen lässt den Marktplatz inmitten des Ortes vibrieren; mühevoll geerntetes Obst und Gemüse, gefärbte Tücher und Gewandungen, Eisen- und Haushaltswaren, Schafe und Rinder, Bettler und Diebe sowie Erzähler und Wahrsager sind ein Teil einer Zusammenkunft, die alle umfasst.

So flackern die Bilder von Ort zu Ort, als wäre mein Lesen[1]gerade in diesem Moment ein Griff in ein sich selbst nährendes Füllhorn. Fakten vermengen sich mit Farben und gedachten Tönen, die des Schaffens tägliche Notwendigkeit umwirbeln, denn Arbeit gab es mehr als genug; die einen bekamen einen Hungerlohn, während andere für das Nichtstun Brokat und Gold zur Schau trugen.

Damalige Wertigkeiten zeigen sich verzerrt und trotzdem vertraut.

Es ist ein Berühren einer alten fernen Zeit

in mir.


[1] Barbara Tuchmann: Der ferne Spiegel; Das dramatische 14. Jahrhundert, Nördlingen, 1982.

Wenn ein neues Update auf unserem Computer ansteht, dann laden wir es herunter und das Alte verschwindet in die dubiose Finsternis unserer Wahrnehmung. Irgendwann erinnern uns Hilferufe des Systems, dass ein Platzproblem am Horizont erscheint und wir uns den Tatsachen stellen müssen: Das Alte beansprucht unsere Aufmerksamkeit; so auch hier:

Geschichte ist nicht nur eine Erinnerung, eine Spur des eigenen Fußes auf nassem Sand. Geschichte ist ein Standpunkt der Betrachtung und ein Ausblick auf eine Ecke unseres Seins. Je nach Zeit und Ort schien sie sich neu erfinden zu wollen, um eine andere Facette preiszugeben.

So darf es uns nicht wundern, wenn plötzlich Empfindungen durch unseren Sinn laufen, die uns völlig fremd sind oder weit entfernte Orte gleich einer Heimat ihren eigenen Glanz besitzen oder alte Muster ihre Daseinsberechtigung einfordern.

Das ist weder schlimm noch außergewöhnlich, es ist nur eine kleine Aufgabe an unsere Gelassenheit dem Leben gegenüber.

Gleich alten Narben sollten wir es betrachten: Entweder sind wir ihnen geneigt, weil sie von einem ziemlich coolen Fahrrad-Stunt erzählen, als der neue Nachbarjunge breit lächelte und seiner Begeisterung offensichtlichen Ausdruck verlieh oder aber wir behandeln dies Alte fürsorglich mit einer guten Creme, damit es geschmeidig mit dem Rest der Haut einhergeht.

Es ist ganz allein unser Ding, was wir damit machen …