Der Wind in meinen Haaren

Es war bald Mitternacht und die Tendenz meines Unmutes stieg, als wäre sie die große Schwester einer erfolgreichen Aktie an der Börse. Leider hatte ich mir nirgendwo genau notiert, ab wann diese Fahrschul-App nicht mehr funktionierte. Da kaufte ich mir vor ungefähr sechs Monaten Übungsmaterial und konnte es doch nicht mein Eigen nennen, es war nur geliehen, allein diese Tatsache regte mich auf.

Immerhin: Das Ampelbild auf der Startseite stand schon auf Gelb. Im normalen Leben wäre dies für mich ein absoluter Anreiz, das Gaspedal kurz durchzutreten. Wahrscheinlich folgte ich damit dem eigentlichen Zweck dieser sprechenden Bilder: Beweg dich! Lerne! Sei konzentriert!

Nun gut, so schnell hatte ich tatsächlich noch nie die Prüfungsfragen abgehakt. Geht doch!

Sechsmal hintereinander sollten zwanzig Fragen eines Tests richtig beantwortet sein. Multiple Choice vom Feinsten …. wie viele Antworten von den drei aufgeführten wären richtig? Erst wenn ich hier mit Leichtigkeit durchpreschte, meldete mich meine Fahrschule zur Theorieprüfung an.

Eigentlich müsste ich alles können, schließlich durchpflügte ich seit zwanzig Jahren unbeschadet das Straßengewühl. Das konnte ich aber nicht. Das unglaubliche Regel- und Verbotssystem bastelte immer wieder gänzlich neue Blickwinkel; auch Sachliches schien seine Tiefen zu besitzen:

Warum musste ich bei einer abbiegenden Vorfahrtsstraße blinken? Schließlich verließ ich sie nicht. Der Schwerpunkt lag nicht wie angenommen in der Tatsache, dass ich mich auf einer Vorfahrtsstraße befand, er lag im Richtungswechsel! Ohne es zu merken, händelte ich hier mit einer Rubinschen Vase. Alles war nur eine Frage der Betrachtung.

Also galt es sich nun trotz der späten Stunde zu konzentrieren: Nehme ich mit dem Fußgänger an der Ampel Blickkontakt auf, wenn sein Arm drei Punkte auf gelben Grund zeigte? Gehe ich davon aus, dass spielende Kinder dem rollenden Verkehr die volle Aufmerksamkeit schenken, nur weil die tolle Raute mir zusichert, alle möglichen Rechte zu besitzen? Bemerkte ich den kleinen Unterschied zwischen innerorts und außerorts? Oder gehe ich freudig auf die Aufforderung eines ebenso an der roten Ampel Haltenden ein und würde mit heulendem Motor unsere geliehenen Kräfte messen?

Ich merkte, dass ich meine Augen kaum aufhalten konnte. Trotzdem fand ich mich erstaunlich ruhig, als mir um halb zwölf nach der fünften erfolgreichen Absolvierung der Fragen die letzte misslang. Ich schenkte dieser Tatsache eine volle Gedenk-Minute, einen tiefen Seufzer und beschloss, einfach weiter zu machen, um zu sehen, ob sich meine Kutsche um Mitternacht wieder in einen Kürbis verwandeln würde.

Mit meinem Fokus vor Augen, bemerkte ich den Tageswechsel erst zwanzig Minuten später. Nichts hatte sich verändert, der Zugriff bestand immer noch!

Oh man!

Megamüde, aber völlig zufrieden schloss ich die App. Die Welt war gut zu mir.

PHOTO by Rohan Makhecha on Unsplash

P.S.: Was soll ich sagen, ich nutzte den darauf folgenden Tag ausgiebig, erhielt mein grünes Licht und bekam meinen Termin für die Prüfung.


Anm. z. Titel:

Entweder bewegt sich die Welt, indem sie mir mit Windböen die Haare durchwirbelt oder ich bewege mich für den gleichen Effekt einfach selbst oder beides geschieht gleichzeitig. Mehr Möglichkeiten gibt es nicht.

Ich hätte in den sechs Monaten jeden Tag ganz problemlos zehn Minuten investieren können, um die rund tausend Fragen zu üben und das Ergebnis mit über 80 Testvarianten in die Zellen einzuschreiben. Nur der Himmel weiß, warum ich das nicht gemacht habe.

Entscheidungen gehören zu unserem täglichen Brot. Manchmal treffen wir sie ganz aktiv und manchmal ohne es zu merken.

Auch ein Nicht-Tun ist eine Entscheidung.


Anm. z. Text: Rubinsche Vase: ein Kippbild, das je nach Betrachtung eine Vase oder zwei Gesichter zeigt.