Es war bereits kurz vor Mitternacht und der Mond verschwand gerade hinter den drei Bäumen am Ende des Innenhof-Gartens. Der Himmel schien mir hier in der Stadt mit seinem kleinen Ausschnitt ein Teleskop nach einem Draußen zu sein, das wortlos ohne Schnickschnack das große Ganze dem Betrachter zu Füßen legte.
Langsam löste sich mein Blick aus der Ferne heraus und fiel auf das Nahe: Der Wein in meinem Glas schimmerte in einem dunklen Rot, das sich je nach Bewegung meiner Hand etwas mehr verdichtete oder lichter wurde. Ich probierte ihn. Er schmeckte nach Sonne, roten Johannisbeeren und einem Stückchen Schokolade, besser ging nicht. Und während ich trank, sah ich die flackernden Kerzen in den kleinen Marmeladengläsern, die mit verschnörkelten Henkeln in meinem gerade gestern aufgeblühten Kirschbaum hingen.
Lieblingsplätze lebten auf ihre Art und besaßen die unglaubliche Wirkung, Genuss in einem Gefühl greifbar werden zu lassen, als versetzten sie uns in eine andere Dimension, die nur für uns entdeckt werden möchte. Es ist dann ein Bild im Bild. Es ist Kunst in einem unglaublichen Kunstwerk, das ich mir am liebsten für immer sichtbar an die Wand hängen würde wollen … aber dafür ist es nicht gedacht, es würde in diesem Festwerden verstauben.
Ich blickte um mich. Worüber machte ich mir eigentlich Gedanken? Alles war doch gerade jetzt da! Zufrieden lehnte ich mich zurück und entspannte mich ganz bewusst.
„Wenn du nicht alles von diesem roten Tropfen bereits ausgetrunken hast, dann komme ich und leiste dir Gesellschaft …“.
„Veyla! Irgendwann bekomme ich noch eine Herzattacke, wenn du dauernd aus dem Nichts auftauchst!“.
Eindeutig, mein Herz klopfte schneller, aber ich freute mich, meine Nachbarin zu sehen.
„Ach komm, dir würde sonst etwas fehlen!“, lachend hielt mir Veyla ihr Glas hin.
Ja, mir würde etwas fehlen. Sie war für mich ein Mensch, der auf seine unglaubliche Weise zu jeder Zeit das schillernde und sprühende Ich-bin-da verkörperte. Für sie tanzten die Sterne, einfach so.
„Wenn ihr eine Party feiert, dann würde ich gern mitmachen!“, meldete sich eine weitere Stimme von der anderen Seite. Gunnar zeigte sich etwas verschlafen, mit Pyjama, strubbeligen Kopf und Decke im Schlepptau, als wäre er höchstpersönlich der materialisierte Linus van Pelt.
„Veyla, dürfen Männer um diese Tageszeit im Beisein anständiger Damen halb bekleidet um ein Glas Wein bitten?“ Grinsend stand ich auf, um auch für ihn ein Glas zu holen.
„Wieso?“ Entrüstet schaute Gunnar an sich herunter, „mehr bekleidet geht doch wirklich nicht!“
„Alles gut, Gunnar! Du siehst fantastisch aus, authentisch würde ich sagen.“, lobte Veyla mit einem zwinkernden Auge.
…
Mein Moment war vergangen, aber ein ebenso wundervoller war dabei zu beginnen …

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Angenommen, ich stünde neben einem Meter Schreibpapier und würde an der Seite von unten nach oben einen Strich ziehen. Dann besäße ich unzählige Einzelpapiere mit einem Punkt auf der hauchdünnen Seite.
Der Strich ist unsere Vorstellung von Zeit; dies Voranschreiten, dieser stete Fluss und er ist eine optische Täuschung. Ich muss ganz ehrlich sein, ich kann es kaum gedanklich umsetzen, dies Fortlaufen nicht als eine in Stein gemeißelte Wahrheit zu sehen.
Der Moment ist ein Moment, nicht mehr und nicht weniger. ABER, was spricht dagegen, wenn wir den Blick von der fortlaufenden Linie lösen und dafür Blatt für Blatt ganz genau betrachten?
Ich gestehe, ich bin ein Punkte-Fan …
Liebe Christine, sind wir nicht schon dadurch „gesegnet“, dass wir das Fortlaufen des Punktes fest werden lassen können in Erinnerung und in Wünschen?
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Lieber Werner, ja, da hast du recht, aber trotzdem … wie oft wünschen wir uns, dass ein wunderbarer Moment niemals enden möge, dass wir ihn auskosten können ohne diesen Echtheitsanspruch des momentanen Erlebens zu verlieren? Ich finde es manchmal nicht einfach, etwas zu genießen und dabei nicht daran zu denken, dass es bald vorbei ist, sei es der Urlaub, der Sonnenaufgang, der Ausflug oder einfach eine gaaannnz besonders leckere Pizza. Diese schönen Dinge enden irgendwann und wir werden uns mit Genuss an sie erinnern, was etwas Wunderschönes ist, aber wir kennen das Echte, dies Ultimative und Besondere des Augenblicks … und damit das Bedauern über das Vergehen nicht zu groß wird, liegt es an uns, nicht aufzuhören, einen neuen Moment zu beginnen, ihn mit beiden Händen zu ergreifen und sich in ihm wieder in einem Jetzt zu befinden. Danke Dir für Deine Worte! Lieben Gruß, Christine
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So ist es, liebe Christine, wenn ich etwas von Dir lese und schwups bin ich durch dieses schöne Gedankenspiel wieder durch…..Lieben Gruß, Angelika
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Ich freue mich darüber 😀 Danke, Angelika! Lieben Gruß, Christine
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