Durchhalten! Nur noch ein kleines Bisschen! Schau mal, der Horizont mit dem diffusen Licht! Und da, die ersten Schatten der Nacht! Standen noch Rehe auf den Feldern? Oh man, das mit dem Ablenken klappte manchmal, aber nicht immer … War Erdanziehung eigentlich tagesabhängig? Vermutlich wollte die Welt mich ärgern … ich fühlte mich immer schwerer, je weiter ich in die Dunkelheit lief.
„Passen sie doch auf! Gehts noch?“, brüllte es mir entgegen.
Mein Herz versank im Schreck und mein Körper reagierte mit einem automatischen Hüpfer nach links zum Ackerrand. Riesengroß, massig und mit der geballten Wucht eines Supersternenzerstörers des Galaktischen Imperiums materialisierte sich etwas spontan in mein Bewusstsein und zog an mir vorbei.
Kurzatmig blieb ich stehen und schaute zurück. Meine Güte, ich war doch nicht zu übersehen! Leuchtstreifen am ganzen Körper und blinkende Armbinden verschafften mir das unübersehbare Erscheinungsbild eines wandelnden Weihnachtsbaums in Laufschuhen! Eindeutiger ging es nicht!
Ein ziemlich fülliger Mann auf einem wackelnden Fahrrad drehte sich nochmals zu mir um und schrie etwas zornig in die Dunkelheit, das der Wind glücklicherweise mit sich nahm. Krass!
Ich brauchte einen Moment, um meine vor Schreck zersplitterte Ruhe wieder zusammen zu suchen. Das Herz klopfte noch unruhig, aber mit jedem weiteren Schritt kam die vorherige beruhigende Gleichmäßigkeit zurück.
So was! Was dachte sich der Typ überhaupt? Ich richtete meine kleine Taschenlampe direkt vor meine Füße. Na gut, ich befand mich regelverkehrt auf der linken Seite, um nicht so nah an der Straße zu laufen. Doch er hatte doch auch Augen im Kopf!
Nachdem die Aufregung erfolgreich einschlief, traute sich mein Naturell wieder verspielt an die Oberfläche:
Der Mann hatte selbst nicht nach vorn geschaut! Vielleicht dachte er an das kommende Abendessen, das ihn seine Frau kochen würde, nee, das passte nicht zur Grundstimmung! Ich lachte, ausgenommen es gab etwas Schreckliches wie Grünkohl mit Bauchfleisch! Ahh…
Oder er hatte bereits irgendetwas richtig Leckeres gegessen und hätte sich am liebsten auf seinem Sofa zusammen gerollt, wurde aber nochmals losgeschickt, weil morgen die Geschäfte zu waren; so etwas macht grantig!
Oder mächtiger Hunger überfiel ihn und der Kühlschrank bot nur gähnende Leere … da wird schon der Tiger in einem geweckt, oh ja, das macht noch grantiger!
Oder er stritt sich mit seiner Frau und sie besaß einfach die besseren Argumente, was ihn ungemein wurmte; jup, so was machte gnadenlos grantig!
Ich lachte begeistert. Genau, und ich war das nächstbeste weibliche Wesen, das seinen Riesengroll mit voller Breitseite abbekam. Das wars, bestimmt!
Eigentlich müsste ich dem Mann dankbar sein! Ich hatte das langweiligste Stück meiner Strecke in Nullkommanichts geschafft! Klasse!
Gut gelaunt schaute ich nochmals zurück in die Dunkelheit der Straße. Ein Schatten flog tief an mir vorbei und landete auf einem unteren Ast des übernächsten Straßenbaums. Leise ging ich ein paar Schritte darauf zu.
Ich konnte nicht anders, mein Herz freute sich … und ich lächelte glücklich zurück.

PHOTO by Francesco De Tommaso on Unsplash
Man muss die Dinge nehmen, wie sie kommen. Und wenn sie nicht kommen, muss man ihnen entgegengehen.
(Sprichwort aus Finnland)
Also heute bist Du nicht nur auf der falschen Seite gelaufen, sondern Du hast es total mit mir verscherzt! Wer sich so über das Lieblingsessen einer ganzen Region äußert, dem kann ich nicht mehr vertrauen! Grünkohl mit Bauchspeck, Kochwürsten oder Mettenden und Pinkelwurst lässt doch das Herz eines jeden Menschen aus dem Oldenburger Land höher schlagen und das Wasser im Munde zusammen laufen. Das ist ein Stück Kultur! Und das versuchen wir auch eisern in der Fremde durchzuhalten, als Kulturbringer sozusagen. Ich lese erst wieder bei Dir, wenn Du innerhalb der nächsten fünfzehn Jahre diese Passage gestrichenen und freiwillig ein Probeessen Typ Grünkohl mit Pinkel durchgeführt hast! 👹👹😬😬
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Lieber Werner, oha! Ich muss zu meiner Verteidigung sagen: ich bin Vegetarier! grins, 😀 Du hast vollkommen recht, aber was soll ich tun? Die Gedanken sind frei, vor allem beim Laufen, da gibt es keine Grenzen … Wäre eine Tasse Kaffee auch ein Friedensangebot? Lieben Gruß, Christine
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OK, akzeptiert! ☕🖐️
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