Jenseits der Bewertung

Etwas fassungslos betrachtete ich den vor mir liegenden Würfel.

„Du hast WAS damit gemacht?“

Mein minimalistisch angehauchter Nachbar schaffte es, seinen roten Schopf etwas verlegen hin und her zu bewegen, als säße er in einem Verhörraum bei der Polizei.

Veyla kicherte in ihren Kaffee hinein und konnte vor Lachen kaum sprechen:

„Vielleicht können wir das als lukrative Geschäftsidee anbieten.“, schlug sie vor und zeichnete mit der Hand ein imaginäres Schild in die Luft, „Wir durchleuchten alles, was ihnen suspekt vorkommt; bringen sie es einfach vorbei!“

Unser Nachbar, Gunnar aus dem Norden Grönlands, lachte auf und rührte zufrieden in seinem Kaffeebecher herum; drei unglaubliche Zuckerstückchen schmolzen dahin, um dem wirklich guten Großen Schwarzen trinkbare Süße abzugewinnen, ein Sakrileg mitten am Tag.

„Es ist ein geschlossener Würfel in einem offenen, deswegen habt ihr keinen Deckel abbekommen.“, erklärte er, „nur leidet die äußere Hülle ein wenig, wenn sie einmal auseinandergenommen wurde.“

Seine Erklärung sollte vermutlich die beiden Tape-Streifen begründen. Auf alle Fälle wussten wir nun, warum unsere Würfel so leicht Kratzer und Furchen bekamen, es war nur die Verpackung, an der wir uns versuchten. Eines musste man dem Mann lassen, Ideen hatte er.

„Und? Was hat es ergeben?“, fragte Veyla, „spann uns doch nicht so auf die Folter!“

Neugierig beugten wir uns vor, als hätte Gunnar das Geheimnis der Welt gelüftet und war nun bereit, es mit uns zu teilen. Ersichtlich blühte unser Nachbar unter der ungeteilten Aufmerksamkeit richtig auf. Mir schienen seine Sommersprossen fast herunter zu kullern und seine wirklich blauen Augen spiegelten unverkennbar die Farbe der nordischen See. Offensichtlich genoss er gerade mit jeder Faser.

„Es ist nicht viel, etwas Metall und etwas Elektronik, mehr nicht.“

„Mehr nicht?“, überrascht lehnte sich Veyla wieder mit ihrer Tasse in die Kissen, „da habt ihr diese Superduper-Röngtendinger in eurer Klinik und das kommt dabei raus?“

„Hmm, und was heißt das nun?“, fragte ich in die Runde, „Irgendeine Ahnung?“

„Tja“, kommentierte Gunnar und ließ noch ein Zuckerstück in seinen Becher plumpsen.

Veyla nahm Gunnars ramponierten Würfel in die Hand, um an den Klebestreifen herum zu pulen.

„Der hat doch eine Funktion!“

Nachdenklich klopfte sie mit dem Objekt ihrer Überlegung auf die Tischplatte.

„Es ist nicht offensichtlich, also denken wir falsch … so schwer kann das doch nicht sein!“

Photo by Arno Smit on Unsplash

Alles auf der Welt hat seine einfache Seite und sei sie noch so versteckt. Fast erscheinen uns die Verflechtungen des Lebens als Chaos, als undurchdringlicher Dschungel von Fakten, Empfindungen und möglichen Lösungsansätzen, die sich ins Unermessliche türmen, bis uns irgendwann die inneren Bilder von möglichen Szenarien zur Hilfe kommen. Wenn wir sie zulassen und kurz in sie eintauchen, dann wissen wir schon Bescheid: entweder fühlt es sich ultimativ toll an oder es sagt uns nichts oder es macht uns Angst oder Stress; so einfach ist das.

Gleich einem Irrgarten, den wir einmal betreten nicht mit seiner Logik erfassen können, ergreift uns manchmal die Größe der Aufgabe, als säßen wir inmitten einer Drachenkralle, die jeden Moment geschlossen werden könnte. Paralysiert lösen wir uns nicht von dem sich Zeigenden und vergessen dabei das Blau des Himmels, das uns immer sucht.

Das Leben erinnert mich manchmal an einen völlig zerstreut wirkenden Professor aus meiner Uni-Zeit, der mir ziemlich oft die gleiche Frage stellte, bis ich ihn irgendwann darauf ansprach und er ganz unverblümt meinte, dass er keineswegs dement sei, sondern eher genau wüsste, dass ich die richtige Antwort kenne, sie aber bisher noch nicht formulierte. Ich fühlte mich wie ein Bewohner von Gotham City, dem das Geheimnis von Batmans Identität vorenthalten blieb; ich sah ihn überall herumturnen, kam aber nicht an die Lösung heran.

So werden wir immer und immer wieder mit dem Gleichen konfrontiert, bis wir bereit sind, einfach dem zu folgen, wohin es uns zieht.

Der blaue Himmel ist da! Die vielen wunderbaren Blüten sind sein Geschenk …

be continued ...