Des Verborgenen offene Tür

Wahrscheinlich war es bereits die achte oder neunte Büroklammer, die ich auseinanderbog, um sie als Werkzeug ihrem Zweck zu entfremden. Vor mir lag ein Metall-Würfel mit völlig identischen Seiten. Naja, fast identischen Seiten … vier davon sahen so aus, als sei das ganze Gebilde aus einem Guss, aber die fünfte ließ an den Rändern eine schmale offene Linie erkennen, als sei das Objekt hohl und mit einer sich einfügenden Platte geschlossen worden.

Vielleicht war diese Seite eingeklebt oder ein Steckmechanismus hielt sie fest. Warum sollte jemand sich die Mühe machen, einen Würfel mit einer sich schließenden Klappe zu versehen, wenn nichts darin zu verbergen wäre? Welchen Sinn hätte sie sonst?

Zuerst versuchte ich es mit einem Fingernagel, doch der brach ob der Misshandlung einfach ab. Das gleiche Schicksal teilte auch meine beste Nagelfeile und auch ein kleines Kartoffelmesser meiner Vermieterin; ich werde es ersetzen müssen.

Was würde Indianer Jones tun? Ich hielt den Würfel im Sonnenlicht vor meinen Augen, als wäre ich Hamlet mit dem Schädel in der Hand. Selbst ein geflüstertes „sein oder nicht sein“ half nicht … Vor mich her sinnierend schloss ich meine Augen und genoss die Wärme der Sonne auf meinem Gesicht. Ich fühlte mich gut mit meinem kleinen Geheimnis in der Hand. Eine Mini-Herausforderung der Welt, was ein wenig erklärte, warum ich Ü-Eier mochte, auch wenn der Inhalt nicht mehr ganz meiner Altersklasse entsprach.

Die Wärme sank durch meine Wangen, als hielte ich mich selbst in den Fluss der Fülle. Es ist ein Gefühl der Präsenz, genau hier auf der Fensterbank, ganz nah an allem, was gerade jetzt meine Welt ausmachte, die ich einfach genoss.

„Nicht erschrecken! Aber ich glaube, wir gehören zum gleichen Club …“

Direkt vor mir im Garten, als stünde ich vor meinem eigenen Spiegel, hielt mir eine Hand einen absolut identischen Würfel entgegen.

Erschrocken fuhren meine Hände hoch, mein eigener Würfel flog durch die Luft und wurde zielsicher in seinem Flug gefangen.

Ein verschmitztes Lächeln, das von einem Ohr zum nächsten seinen offensichtlichen Spaß bekundete, half mir, das Hochgeschreckte schlagartig glatt zu streichen und einfach das Gleiche zu tun:

Lachen …

Photo by Cosmic Timetraveler on Unsplas

Geheimnisse sind die etwas anderen Chilischoten! Das Essen konnte schon lange vorbei sein und trotzdem brannte das Charakteristische mit der Präsenz eines lärmenden Wasserfalls. Plötzlich materialisieren sich Grenzen, als stünde man höchstpersönlich vor der Chinesischen Mauer.

Ich meine nun nicht das total Dunkle, das Unfassbare; ich denke eher an den Kern allen Wissens, dessen Wärme spürbar in allen Winkeln seine Existenz behauptet und genau dort bleibt, bis es gefunden wird. Ich denke an die Geheimnisse, die uns unweigerlich in Bewegung bringen; denn wer könnte einer offenen Tür widerstehen?

Wir gehen vielleicht einen Schritt, aber dann, noch in der Bewegung, überfallen uns Fragen. Da ein Außen immer ein Innen ist, betreffen diese Fragen nicht nur das, was da vor uns liegen möge, sondern mit erstaunlicher Treffsicherheit auch uns selbst. Hier gerät alles ins Stocken. Wollen wir wirklich, wirklich wissen, was um uns herum geschieht oder gar, was aus uns selbst heraus möglich wäre? Oder ist uns die Komfortzone, der Genuss der Fülle, das Gutgehen in jeglicher Form des Luxus so wichtig, dass ein Dazulernen, ein über sich selbst Hinauswachsen, nur aus Versehen stattfindet?

Und genau an dieser Stelle kommen dann die Geheimnisse des Lebens ins Spiel. Geführt von unserer Freude, diesem ultimativen Gefühl des in uns öffnenden Prachtvollen, bewegen wir uns, als stünden wir vor einem unwiderstehlichen Sog oder auf einer Rolltreppe, die uns trotz Stillstand bewegt.

Hartmut Böhme (dt. Kultur- und Literaturwissenschaftler) schrieb einmal: Eine Welt ohne Geheimnisse „wäre die Wüste der Langeweile. Es wäre der augenblickliche Verlust aller Spannkraft. Es wäre eine Welt ohne Liebe, ohne Eros, ohne den Zauber der Attraktion. Es wäre Terror. Es wäre das Wissen als lückenloses Gefängnis.“

Nun ja, das unterschreibe ich sofort …

be continued …