Nachdenklich stand ich in der Pause am weit geöffneten Fenster und schaute in den dunklen Abendhimmel. Erste Sterne zeigten sich; ich betrachtete sie und sie betrachteten mich. Es fühlte sich an, als hätten sie den kühlen Wind geschickt, der an mir vorbei ins Dojo wehte. Er umstrich die Säule, die Lampen, die Treppe, die Waffen an der Wand, lief über die lindgrünen Matten und verschwand auf der anderen Seite wieder durch die kleinen Fenster in die Nacht. Ein Kommen und Gehen, als wäre er ein flatternder Puls, der kreiselnd sein nickendes Einverständnis zu dem Gesagten der letzten Stunde gab:
Es ging um etwas Prinzipielles, um etwas Essenzielles, um etwas, was Angreifer und Verteidiger gleichermaßen betraf …
Erfasse ich als Ausführender das Handgelenk meines Gegenübers, so tat ich dies nicht nah an meinem eigenen Körper, sondern komfortabel von diesem entfernt, nicht eingeknickt und vornübergebeugt, nicht ohne festen Stand und so, dass der Griff direkt vor meinem Zentrum lag, sozusagen unter bestmöglicher Kontrolle. Ich gab mir selbst den Raum zum Handeln. Im Grunde war dies ja nichts Neues; es waren Grundstrukturen jeder Technik und trotzdem schlich sich mit den Worten unseres Lehrers ein neuer Aspekt hinein.
Matthias nannte es die Sphäre mit ihren sechs Dimensionen: vorn, hinten, rechts, links, oben und unten. Es war ein Raum um uns herum, der uns einhüllte wie ein Ballon; ein besonderer Raum, der das Potenzial unseres Ichs offenlegte: Wenn ich es wollte, dann besaß ich die Möglichkeit, mich selbst in alle Richtungen auszudehnen und erhielt dadurch einen Vorteil im Kampf.
Das hört sich im ersten Moment merkwürdig an, lässt sich aber deutlich erkennen, wenn man sich in einfache Vorwärtsrollen wirft: Denke ich mich währenddessen nach links, dann wird diese eine Tendenz in die linke Richtung haben, denke ich mich währenddessen nach oben, dann zieht es mich förmlich hoch oder denke ich mich nach unten, dann reicht der Schwung nicht, um automatisch wieder in den Stand zu kommen.
Wenn wir ganz einfach dastanden, so mitten im Raum, ganz auf uns selbst konzentriert, da ließen sich die Grenzen klar abschätzen. Doch diese Grenzen waren nur die unseres Körpers. Unser Geist strahlte darüber hinaus, als wäre der Körper ein Lichtgefäß, das bunte Muster außerhalb seines Selbst zauberte. Jeder von uns kennt diesen Zustand: Es ist das unglaublich schöne Gefühl, „rund“ zu sein, zentriert und in der Mitte befindlich. Wir fühlen uns kraftvoll und bestimmt, als befänden wir uns auf einem sicheren Gleis, das die Richtung vorgibt.
Das lässt sich für mich kaum in Worte fassen, es lässt sich eher empfinden. Vielleicht ist es ein gedankliches Konstrukt, das mir hilft, meinen Körper so zu bewegen, dass den physikalischen Gesetzen Genüge getan wird und der Körper sich optimal ausbalancieren kann. Vielleicht ist es aber ganz anders, vielleicht hatte auch Aristoteles recht:
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile …

Anm. z. Titel: Lateinisch „Sphäre“
Impliziertes Wissen &:https://www.tattva.de/empraxis-das-aus-sich-rollende-rad/
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Klasse! Vielen Dank für den Link! Das passt wirklich gut dazu! Lieben Gruß, Christine
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Ist implizi ̶e̶̶r̶ t ٩freu۶
Bitte gerne!
Lieben Gruß, Axel
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