Der fühlbare Haiku

Da stand ich nun, die eine Hand hielt mich am Oberarm fest und die andere griff zu meinem Hals. Eine unsymmetrische Herausforderung, die leicht irritierte, da für einen winzigen Moment zwei potenzielle Punkte zu beachten waren. Allein diese Tatsache mischten die Karten anders. Sie veränderte, als zöge sie mich an sich heran, damit ich nichts anderes wahrnahm.

Irgendwie eigenwillig. Da kommt eine Aufgabe und bevor sie überhaupt im wirklichen Sinne begann, drängelten sich andere Sachverhalte in den Vordergrund, die anscheinend gesehen werden wollten, als ginge es immer nur darum, den Funken der Aufmerksamkeit zu sammeln, sei es von Wesen oder Dingen.

Doch folgte ich mit diesem Bewusstsein nicht schon zu sehr einem Angreifer in seiner Intention? Verlor ich mich nicht in Einzelheiten, die sich in erster Linie über die prinzipielle Tatsache legte, dass dieser Standort mit Konfrontation einherging? Wer stellt sich auf die Straße, wenn ein Laster kam?

Die Linie verlassen! Ich weiß nicht, wie oft unser Lehrer darauf hinwies und trotzdem dachte ich darüber nach! Vielleicht brauchte der Körper dies Aufnehmen mit den Sinnen, um etwas wirklich, wirklich allumfassend verstanden zu haben. Vielleicht brauchte es in einem Kampf auch viel mehr Gefühl und Intuition, als wir uns vorstellen konnten. Vielleicht zeigte sich in dieser Form des Miteinanders die direkte Konsequenz viel ausgeprägter, als es im normalen Leben der Fall wäre.

Die geforderte Aufmerksamkeit war nichts anderes als ein kommender Impuls. Ich entschied in dem Moment, ob ich mich darin verheddern wollte oder ob ich diesen als Anschub für mein eigenes Bewegen nutzte. Wenn ich es zuließ, dass sich meine Gedanken in Fakten verdrehten, dann verpasste ich die um mich herum existierenden Hilfsmittel.

Gerade eben übten wir dies Mitschwingen, dies Aufsetzen auf Schwer- und Fliehkraft, dies Mitgetragen-Werden in den Schwung des Kreiselns. Es war kein gewolltes konstruiertes Bewegen, sondern ein In-Den-Raum-Schweben, während sich gefühlt tausend Schmetterlinge auf meine Arme setzten und diese für einen kleinen Weg mit sich trugen, gleich einem kurzen Aufspringen auf das Trittbrett eines Zuges, den ich zu jeder Zeit verlassen konnte.

Vielleicht zeigte Aikido so sein Wesen: Es ist eine Kampfkunst und Kunst spiegelte immer uns selbst; auf alle Fälle den, der sie schuf. Wenn ich Sequenzen einer Technik aneinanderreihte, dann waren dies Teile einer Körperbewegung, ein äußerliches Tun. Wenn ich diese Hülle genauer betrachtete, entsprach dies einer Sache, die noch nicht ihren ausfüllenden Konterpart besaß.

Hüllen sind dazu da, um sie zu füllen, damit sie überhaupt auf ihre Art glänzen konnten. Jede Technik fand ihren Ausdruck, wenn ich sie den Gegebenheiten anpasste: Da war die Art des Angriffs, da war die Möglichkeit der Positionierung, da war mein Wissen über die Form und es war –und dies vor allem- mein Vertrauen zu mir selbst.

Tausend Schmetterlinge … wenn ich sie fliegen ließ, wenn sie einfach ihren Weg fanden, wäre dies so schlimm? Würde ich mich so völlig von dem entfernen, was ich in diesem Moment zu erlernen hätte? Oder wäre genau jeder einzelne bunt glitzernde Flügel genau das, was ich suchte, um eine Form zu füllen? Was war denn zuerst da, die Form oder das darin Befindliche? Weder das eine noch das andere konnte ohne den anderen vollkommen sein, also bedingte sich beides gegenseitig, um überhaupt sich existent nennen zu dürfen.

Es galt nun die Technik zu lernen, das Tun und die richtige Reihenfolge zu verstehen und andererseits das Eigentliche nicht zu vergessen, ohne dem die Form nur eine Form bliebe, mehr nicht.

Nachdenklich betrachtete ich die Bewegungen meines Gegenübers. Wenn eine Form den Inhalt bedingte und andersherum ebenso, dann war es egal, zu welcher Seite ich mich zuerst gesellte, um beiden als einer Gesamtheit näher zu kommen. Ich lächelte, denn ich wusste, welche Seite die meinige war:

Ich ging zu den Schmetterlingen …

Anm. zum Titel:

Ein Haiku bezeichnet in der Literatur ein sehr kurzes japanisches Gedicht mit drei Zeilen und einer Silbenzählung (im Japanischen: Lautenzählung) 5-7-5.  Traditionell bezieht es sich auf Jahreszeiten oder Natur.

Energien zählen in meinen Augen zu dem Gesamtkonzept der Natur, deshalb passt es auch, diese während einer Ausführung in drei Zeilen als Eindruck festzuhalten.