Der 1000-Meilen-Blick

Meine Hand nahm den unsichtbaren Faden, hörte das Sirren der Vibration und fühlte die Spannung, sobald der Impuls durch das Ziehen sein Ziel fand. Wenn Illusionen von zwei Seiten aufrechterhalten werden, folgt die eigene Fantasie nur zu gerne und bringt Bekanntes ins Spiel, mit allem Drum und Dran. Realität entspricht dann eher einem Knetblock in einem besonders schönen Grün, denn Bilder bestimmen die Welt und uns selbst.

So standen wir auf der Matte und zogen mit imaginären Fäden an Hand, Schulter und Kopf; immer wieder sprang der Faden, um den dazugehörigen für ein anderes Körperteil aufnehmen zu können. Ein Spiel mit Hintergrund; wobei ich gestehen muss, dass dies Verweben zwischen Wissen und Bildern allein schon für sich einfach toll ist und mich magisch anzieht, es ist so zeitlos.

Die Aufgabe, gleich einer Marionette dem Faden fließend zu folgen, ist eigenwillig und überhaupt nicht einfach. Wie sehr sind wir es gewohnt, nicht alle Gelenke in einer geschmeidigen aufeinanderfolgenden Weise in Bewegung zu bringen: Der Kopf bleibt starr oder die Schultern fest oder die Hüfte scheint ihre Möglichkeiten vergessen zu haben gleich den Knien, die sich manchmal nicht beugen mögen, weil das Starre durch den Alltag so sehr in Fleisch und Blut verfangen ist.

Unser Körper antwortet auf das, was ihm widerfährt, sei es im normalen Leben oder im Kampf. Immer besitzt die Form unserer Handhabung einen Preis, den wir für das zu zahlen haben, was wir dann tatsächlich tun; manchmal lässt sich das Leben mit der Reaktion Zeit und wir begreifen deshalb diese simple Tatsache nicht, doch in einem Kampf entscheidet sie über Erhalt oder Verlust.

Stehe ich nun meinem Angreifer gegenüber, erwarte ich irgendeine Aktion, die mich mit Impulsen konfrontiert. Deshalb liegt meine Aufmerksamkeit bei meinem Gegenüber. Wichtig ist nun die Art und Weise, wie ich das Kommende aufnehme. Ich könnte die Waffe fixieren, die Hände, die Augen, das Lot oder simpel die Distanz, die mir bleibt, bis ich reagieren muss. Ist die Situation überraschend oder neu, erscheint die Vielfalt der Möglichkeiten unermesslich und total verwirrend. Wer weiß schon, an welcher Stelle die eigene Handlung erforderlich sein wird?

Irgendwann merken wir, worin der Fehler liegt: Wir erwarten etwas von einem ganz bestimmten Punkt, nur leider sind da ihrer zu viele. Also muss ich genau diese Betrachtung ändern. Das ist mega-schwer. Wie oft stürzen wir uns auf eine spezielle Sache und vergessen den Rest? Deshalb auch die Übung; ein Teil unseres Selbst reagiert auf ein Außen und alles folgt in Gänze. Nichts ist abgestellt oder abgetrennt.

Also stehe ich da und streiche die Erwartung, streiche die Fixierung und suche. Ich suche das Gesamte, das Umfassende, den Blick hinter dem Blick. Einem Beobachter erscheint dies etwas entrückt, aber es ist wie ein Panorama-Bild der Kamera, das in einer Erweiterung alles aufnimmt. Ich grenze mich nicht nach außen ab. Nicht nur ich selbst bin das Subjekt inmitten des Lebens, sondern der Andere wird darin mit eingeschlossen.

Verändert sich schließlich irgendetwas innerhalb dieses Betrachtungsfeldes, dann bemerkt der eigene Körper es im Entstehen; Aktion und Reaktion vermengen sich, denn …

der Andere bin ich.

Dieser unbestimmte Blick lässt sich üben! Wir können damit mehr aufnehmen, als das fokussierte Auge sieht; es fühlt sich ein wenig komisch an darauf zu vertrauen, aber es funktioniert!

Als ich heute Morgen im Gras fotografierte und mich gedanklich mit meinem Text beschäftigte, besuchte mich währenddessen ein Schmetterling, ein Tagpfauenauge(!), und setzte sich auf den Bokken. Ich empfand es als Bestätigung … einfach schön!