Der Raum hinter der Wahrnehmung

Überall im Dojo verteilt, lagen wir auf dem Boden und folgten den Worten unseres Lehrers. Meine Hände spürten die weiche Matte. Wenn die Farbe Lindgrün ein Gefühl hätte, dann wäre es für mich dies leicht Raue, Schlichte und damit auf alle Fälle Unkomplizierte.

Mit einer bestimmten Atem-Übung pumpten wir gerade viel Sauerstoff in unsere Lungen: tiefes Einatmen, Ausatmen, Einatmen, Ausatmen, ohne Pausen, als gäbe es nichts anderes, was irgendwie von Belang sein könnte. Auf alle Fälle ließ sich in diesem Moment sagen: Atmen gehört eindeutig zu den wirklich, wirklich eigenartigen Dingen, die einmal fokussiert die volle Aufmerksamkeit an sich ziehen.

Dann ein letztes langes Ausatmen, so lange, bis da nichts mehr war und genau dort wurde alles angehalten, sein gelassen, kein Atmen, nichts.

Ein Hauch von lebenslanger Gewohnheit wollte sofort wieder einatmen, doch ich ließ es nicht zu. Ich war neugierig. Das Verstehen von Vorgängen in einem Selbst gehört zum Leben, zu dem Da-Sein, mit all unseren Sinnen, dem Körper an sich und selbstverständlich unserem Geist, der aus allem ein Gesamtkonzept bastelt, das wir dann Wirklichkeit nennen.

Da lag ich nun und vergaß das Gefühl in meinen Händen. Ich betrachte überrascht mich selbst, als schaute ich zur gemalten Decke des Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle, die den Besucher in den Bann nahm und alles vergessen ließ:

Ich brauchte nicht atmen, denn ich hatte genug Luft in meinem Körper. Alles war da, voll und ganz. Entspannt ruhte ich mit dem gleichmäßigen Gefühl des unteren Schwerpunkts auf der Matte; warm, geborgen, ruhig und völlig gelassen. Die Definition von Entspannung bekam für mich ein gänzlich neues Gesicht; das, was ich bisher darunter verstand, sah in meinem Rückblick eher als eine Vorstufe aus, die schon ganz nett war, aber noch nicht an dies Gefühl des Momentes heran reichte.

Erst im Nachhinein begriff ich, woran es lag. Ich konnte entspannen, weil jeglicher Gedanke außen vor war. Es gab nichts zu bewerten, zu bedenken, zu beurteilen, nichts. Da lag ich, schaute in mich selbst und befand mich an einem Ort, der einem Moment mit geschlossenen Augen auf einer eigenen Insel in der Südsee glich; ich hatte meine eigene Sonne, meinen eigenen Strand, unendlichen Vorrat an allem und die Gewissheit, die Zeit würde mich nicht einholen. Alles, alles war da und konnte einfach „sein“.

Echt, echt schön …

(Im Rahmen eines Sonntags-Workshops unseres Dojos)

Wenn mit Wahrnehmung das Aufnehmen von Informationen und im zweiten Schritt das Abgleichen mit meinem inneren Wissen definiert werden kann, dann heißt dies im Umkehrschluss, dass ich mit jeder Handbewegung, mit jedem Erfühlen sofort etwas tue. Ich gleiche Innen und Außen ab, bis ich es zusortiert habe. Wenn ich dies nicht kann, dann nehme ich es nicht wahr.

Henri-Louis Bergson (1859-1941) schrieb: Das Auge sieht nur, was der Geist bereit ist, zu begreifen.  

Es gibt aber einen Ort in mir selbst, der diesen Abgleich zwischen Innen und Außen nicht braucht, weil er alles hat. Dort ist nichts anderes wichtig, dort kann ich in mir ruhen und bin dadurch standfest. … Diese Formulierung kommt mir bekannt vor … manchmal brauchen die Dinge nur einen anderen Ausgangspunkt, um Neues an ihnen zu entdecken …

Das Zentrum lässt sich also auch von innen betrachten … echt, echt schön.