Des Ebenmaßes Ziel

Stimmen von mehreren Aikidoka hallten über den Hof, wehten gegen die alten Mauern des Gebäudes und schwangen zurück über Sand und Stein, als wollten sie Anlauf nehmen, um schließlich gemeinsam der untergehenden Sonne entgegenzugehen. Wir standen in einem großen Kreis und übten den geraden Schlag mit dem Schwert: leicht und ohne Kraft, exakt, konzentriert, hoffentlich ohne Verspannung in den Schultern und mit einem Kiai, der mit dem Endpunkt des Schwunges zusammentraf.

Man kennt diese Rufe aus den Filmen, wenn ein Karateka seine Kraft förmlich explodieren lässt und wirklich dicke Bretter mit dem Handkantenschlag spaltet. Solche Laute lassen sich in allen Budoarten finden. Ich habe im Grunde nie wirklich darüber nachgedacht, dass darin etwas verborgen sein könnte. Mittlerweile weiß ich, er ist gleich einem geheimnisvollen Trakt einer Burg; ein zusätzlicher Aspekt des Selbst, der auf ein Erforschen wartet, denn er will gefunden werden.

Nach dem Aufwärmen übten wir an verschiedenen Techniken und unser Lehrer bat uns, diese auch mit einem Kiai zu beenden. Oberflächlich gesehen war dies kein Problem für mich, doch innerlich verschoben sich Gleise. Es fühlte sich an, als garnierte ich die Technik mit einem Ruf, um ein Bild entstehen zu lassen, was noch nicht war.

Ich könnte dies Unrunde ignorieren. Das möchte ich aber nicht. Wenn wir unser Tun nicht aus vollsten Herzen bejahen können, als tollten wir mit unseren Freunden selbstvergessen auf einem Spielplatz herum, bis die Sonne kein Licht mehr hat, was bliebe dann überhaupt? Ein Bild eines Bildes, das lediglich zur Betrachtung da ist? Das ist kein Weg, das ist dann nur ein Schild.

Ich las einmal: „Die zwei Wörter, aus denen Kiai zusammengesetzt ist, sind dieselben wie in Aiki. Die umgedrehte Ordnung ist wesentlich, sie weist auf eine andere Zielsetzung, eine andere Einstellung hin. Im Aiki ist es Ki, das zur Harmonie führen soll, im Kiai soll hingegen stattdessen die Harmonie zum Ki führen.“[1]

Meine Vorstellung bastelte daraus Bilder. Es zeigte sich in der zweiten Wortsilbe die führende Lok, die den angehängten Waggon zum Ziel führte. Bei einem Kiai zog die Harmonie (Ai) die Energie (Ki) hinter sich her und sammelte auf ihren Weg immer mehr von dieser unglaublichen Kraft ein, bis letztendlich am Ziel ein überwältigender Effekt erzielt werden konnte.

Auf welchen Weg wir lernten, war im Grunde unerheblich. Manchmal erfuhren wir etwas sozusagen auf 2D-Basis über unseren Geist, der etwas holprig und oft kompliziert seine Anweisungen gab. Manchmal sahen wir einen anderen und kopierten das Neue. Und manchmal bekamen wir das vielschichtig Verpackte über unseren Körper und konnten dabei nicht einmal überblicken, auf wie vielen Ebenen uns Erkenntnisse erreichten.

Alles hat zwei Seiten. Beim Menschen sind es Körper und Geist, die sich gegenseitig beeinflussen wie Yin und Yang. So existieren für eine Technik ebenso zwei Seiten, die ihre Struktur besitzen und gemeinsam etwas Vollkommenes entstehen lassen.

Es gibt die äußere Form, die mit dem Erfassen, verstehen der Abfolge und letztendlich der körperlichen Umsetzung seine sichtbare Ausführung erhält. Auch wenn damit schon so vieles an einer Technik erklärt sei, so ist es meines Erachtens unumstritten, dass es eine innere Form gibt, die von einem Fühlen geleitet wird. Es ist eine Stimmigkeit, die den Ablauf als nur auf diese Weise als richtig erscheinen lässt. Es ist das Gefühl der beim Tun entstehenden Harmonie.

Langsam wurde mir klar, warum sich das Empfinden der verschiedenen Gleise bei mir einschlich. Ich arbeitete an der Technik, an der Bewegung und ihrem Fluss, war aber noch nicht soweit, den inneren Teil damit so zu verflechten, dass eine vollständige Harmonie entstand, die die Energie bündelte und mit sich zog.

Trotzdem war ich zufrieden. Die zwei Gleise würden sich mit jedem Training weiter ausrichten und irgendwann werden sie eines sein. Dann wird er da sein – mein Kiai.


[1] Stefan Stenudd, Aikido, Die friedliche Kampfkunst, Malmö, 2012, S. 112.