Die Kerzen flackerten. Wind kam durch die weit offenen Fenster und mit ihm erschien das Leuchten des hellen Mondes; auch eine Art des Hallo-sagens. Es tat gut; der Tag war es bisher nicht; tausend Zuviels wollten kein Ende nehmen. Vielleicht lagen sie eigentlich immer herum, nur heute krabbelten sie förmlich auf meiner Haut.
Ich beschloss, den Tag Tag sein zu lassen, die Todos zu vergessen und mich nur noch dem Schönen zu widmen. Projekte brauchten einen Rahmen gleich einem Kindergeburtstag mit Girlanden, bunten Luftballons und einer Lieblings-Schoko-Sahnetorte. Deshalb verteilte ich gesammelte Schätze und Arbeitsmaterialien auf dem Tisch, stellte Kerzen auf, legte Lavendel aufs Räucherstövchen und kochte mir meinen Lieblingstee, der nun dampfend vor mir stand.
Meine Hand fuhr über eine große Feder. Völlig unversehrt und glatt war sie vermutlich gerade vom Himmel gefallen, als ich sie auf meinem Weg in der Feldmark fand. Das Kerzenlicht legte sich auf die Form und zeigte all ihre unterschiedlichen Schattierungen, als bestimme der Moment der Betrachtung das Inne-liegende: Tarnung und visuelle Kommunikation … vielleicht brauchte man kein Vogel zu sein, um dies darin zu sehen. Ich fühlte mich beschenkt.
Mit einem scharfen Messer in der einen Hand und die Feder in der anderen saß ich nun da und betrachtete die feinen Verästelungen. Mittlerweile wusste ich, dass sich an den Seiten der Feder Bogen- und Hakenstrahlen abzweigten und sich sozusagen gegenseitig festhielten, um eine dem Wind trotzende Fläche zu bilden. Ich wusste aber auch, was ich finden würde, wenn ich die Spule, den Mittelteil der Feder, am Fuß aufschnitt. Die Vorstellung fühlte sich merkwürdig an.
Ich wollte mit der Feder schreiben und dazu brauchte ich eine vernünftige Spitze, die die Flüssigkeit aufnahm und gleichmäßig verteilte. Papier und dunkle Tinte lagen schon bereit. Ich drehte die Feder durch meine Finger und dachte darüber nach, was ich eben noch nachgelesen hatte:
Einmal im Jahr mausern sich die Vögel und ließen ein brandneues Federkleid wachsen. Während dieser Wachstumszeit floss eingebettet in einem Gewebe Blut durch die Spule. Sobald die Arbeit getan war, stoppte der Zufluss und das dafür genutzte Gewebe zog sich zusammen … es wurde zur Seele.
Ich holte tief Luft, schnitt und zog sie heraus. Da lag sie nun; sie erinnerte mich ein wenig an eine durchsichtige, abgestreifte Haut einer Schlange. Vorsichtig berührte ich sie, sie zerfiel, oh …
So schnitt ich das Ende zu, tunkte es in Tinte und begann. Ich begann Buchstaben zu formen, Worte zu zeichnen und letztendlich immer weiter im Tun zu versinken. Bilder des Tages zeigten sich und zerfielen ebenso und machten den Bildern über Federn, ihren unglaublichen Aufbau und perfekten Eigenschaften Platz.
Zufrieden betrachtete ich mein Werk und schaute in die Kerzen. Ich dachte an meinen Tag, an den Stress und an das Viel-zu-viel. Ich hatte nicht viel zu viel getan, sondern viel zu wenig; viel zu wenig für mich.
Meine Finger fuhren über die krümeligen Reste der Seele, die die Feder während des Wachsens begleitete; sie begann zu verkümmern, als die Feder nicht mehr wuchs. Wir Menschen wachsen auch, wenn wir den Zustrom von Wissen über unser Außen nicht versiegen lassen; denn ein Außen ist ein Innen …
Der Tag war doch ganz gut.

Anm. z. Titelbild: Foto von Jean van der Meulen von Pexels
Anm. z. Text: Das Innere der Spule heißt wirklich Seele …
Eine wunderschöne Betrachtung.
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Danke Dir, Werner! Lieben Gruß, Christine
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Was für ein schöner Text, gefühlt genau für mich heute morgen! Danke Dir! (Jetzt weiß ich auch, was mir bei der letzten Feder zerbröselt ist) Ich werde jetzt meine Todos beiseite legen und mit meinen Händen im Garten pusseln, das schöne angenehme Wetter genießen und die Seele baumeln lassen. Lieben Gruß, Angelika
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Ich freue mich! Und ich glaube, das ist ein ziemlich guter Plan für einen Sonntag! Viel Spaß! Lieben Gruß, Christine
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wunderbar geschrieben…
lg wolfgang
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Merci! Ich freue mich, Wolfgang! Lieben Gruß, Christine
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