Nur kurz schauen …

Alles war im Aufbruch, wie schon immer, zu jeder Zeit; nur manchmal zeigte es sich wesentlich ernsthafter, wesentlich dringlicher und ließ sich weniger ignorieren. Dies war eine Tatsache, so glasklar, als wäre es eine Wahrheit, die schon lange irgendwo herumlag und gerade in diesem Moment gefunden werden wollte; genau wie das Zelt der Wahrsagerin. Ich fühlte mich mit einem glühenden Brennpunkt konfrontiert, der seine Hände ausstreckte und zu sich zog:

Die Spitzen der Zelte leuchteten durch die Abendsonne in besonders auffallenden Farben. Ein Ton in Gold und Silber umschlang sie zusätzlich, als besäße der Schein ein Eigenleben, das nur zu einer bestimmten Stunde für das betrachtende Auge sichtbar wurde.

Noch stand ich am Rand und beobachtete das auf seine Art geordnete Durcheinander der Menschen. Bekannte wie unbekannte Gesichter, fokussiert, interessiert, gefangen, fasziniert und innehaltend, als müsse das von den Verkäufern Präsentierte genug Zeit bekommen, um sich in das Leben der Vorbeiziehenden mischen zu dürfen, ohne dass sie es merkten. Es zog auch mich; also ging ich …

Geführt von etwas Fließenden um mich herum, zeigten mir meine Füße unbewusst die Richtung. So stand ich schließlich vor dem Zelteingang und trat ins Innere, ohne wirklich genau zu wissen, warum. Luftige Gaze hing in Streifen von der Decke und legte sich auf meine Schultern; eine Begrüßung der anderen Art. Unweigerlich duckte ich mich ein wenig und bekam dadurch den freien Blick zum Ende des Raumes. Tiefgründige grüne Augen schauten mir entgegen.

„Du bist spät.“

Ich hielt dem Blick stand, nickte und wusste, dass ich nicht unbedingt etwas sagen musste; sie kannte vermutlich schon alle Antworten. Langsam und etwas verhalten trat ich näher. Eine schmale Hand zeigte auf einen kleinen Hocker vor dem hellen, hölzernen Runen-Tisch, der poliert, gleich einem Handschmeichler zum Berühren einlud.

Unterschiedliche Dinge lagen direkt vor mir. Da mein Gegenüber diese betrachtete, tat ich es auch. Zu meiner linken Hand zeigte sich ein verschnörkelter Schlüssel, der in den Feuern des Mittelalters geschmiedet schien. Am liebsten hätte ich ihn angefasst, um ihn näher zu betrachten, doch intuitiv wusste ich, dass ein Berühren ebenso ein Entscheiden beinhaltete. So umrundete lediglich mein Blick dies fast schon filigrane Kunstwerk, was ich jedem Händler sofort aus den Händen genommen hätte, um es mein Eigen nennen zu dürfen.

Um dem Zugreifen nicht zu erliegen, legte ich meine Handflächen an die abgerundete Tischkante. Kaum einen Zentimeter weiter, direkt vor mir, lag eine lange bläuliche Feder. Als hätte ein großer Vogel sie gerade eben für mich zur Betrachtung dort hingelegt, so unversehrt und vollkommen erschien sie mir. Durch einen Lufthauch bewegte sie sich leicht und offenbarte die unterschiedlichen Schattierungen, als hätte Öl auf einer Wasserpfütze den Lichtstrahl der Sonne eingefangen. Auf meinen Wanderungen durch die Wälder hätte solch ein Fund den Tag vollkommen gemacht.

Und da sich vermutlich für alle Ewigkeiten das Geheimnis in der Zahl drei verbarg, lag zu meiner rechten Hand ein kleiner flacher Stein. Marmoriert durchzogen dunkle Adern sein Innerstes. Ich hätte ihn ebenso an einem Strand irgendwo am Meer finden können; glatt, etwas spiegelnd, wenn das Licht auf ihn fiel.

„Ich weiß eigentlich nicht …“, begann ich, doch mein Gegenüber legte ihren Zeigefinger auf den Mund und bedeutete mir ein notwendiges Schweigen. So betrachtete ich ihr Gesicht im schummrigen Licht. Nicht alt, nicht jung, nicht hier und doch jetzt, klare Züge mit einem bestimmten Ausdruck des Wissens. Also wartete ich. Meine Aufgabe lag nun wohl darin, Geduld zu besitzen, mehr nicht.

Sie schloss die Augen, reichte über den Tisch und legte ihre Hände auf meine Handrücken. Die Wärme ihres Körpers durchzog mein Innerstes, berührte mich und wanderte durch meinen Sinn, als wäre ich ein offenes Buch, das ich bereitwillig zum Lesen hinlegte. Bevor ich dem Impuls, meine Hände zu entziehen, umsetzen konnte, ließ sie mich los und bedeutete mir, meine Augen ebenso zu schließen.

Ich tat wie geheißen, bemerkte aber sofort, dass mir die Situation nicht ganz geheuer war. Schließlich saß ich hier in einem mir fast unwirklichen Zelt mit einer fremden Frau, die kaum mit mir sprach. Lagen die drei Gegenstände für jeden Besucher dort? Konnte sie sehen, dass ich eigentlich eine Riesenportion Skepsis mit mir trug und es im Grunde meine Neugier war, die mich herzog? Wie viel konnte sie wirklich in mir lesen? Gab es überhaupt einen glaubwürdigen Aspekt?

Stille breitete sich um mich herum aus. Meine Muskeln entspannten sich, mein Herz schlug langsamer; alles kam zur Ruhe, vor allem ich selbst. Ein schönes Gefühl; ein Gefühl, als flöge mein Herz über unendlich viele stille Seen im sommerlichen Mondlicht. Ich genoss, bis mir einfiel, wo ich mich befand. Mein Puls ging abrupt schneller, weil ich einen kleinen Moment überlegte, wie lange ich nun schon hier saß und im Grunde überhaupt nichts mehr hörte. Deshalb schaute ich nun doch auf.

Die tiefgründigen grünen Augen waren fort. Ich sah mich um. Noch immer war nichts zu hören, aber auch nichts zu sehen. So fiel mein Blick wieder auf den Tisch. Zwischen Schlüssel und Feder lag ein Stück beschriebenes Papier. Es galt wohl mir. Neugierig beugte ich mich vor.

Meine Verwirrung war nun komplett. Offensichtlich bekam ich ungewöhnliche Antworten auf Fragen, die ich noch nicht gestellt hatte. Wollten Menschen denn immer das Gleiche wissen, sodass die Antworten von ganz alleine passten? Vielleicht war dem so. Vielleicht bog sich auch jeder diese Antworten auf seine Situation zurecht, als bekäme man Knetgummi in die Hand gedrückt und jeder baute etwas anderes daraus.

Es kam mir vor, als erhielte ich ein Echo meines Tuns, das durch mein Gegenüber in einem anderen Licht erschien. Ist es nicht das, was wir erfahren, wenn wir mit anderen Menschen zusammen sind?

Im Grunde konnte dadurch jeder Andere in unserer Nähe ein Wahr-Sager sein. Wir legten unsere Aufmerksamkeit auf einen Anderen, bekamen Antworten auf unser Tun oder Sagen und nahmen dadurch uns selbst wahr. Wie bei einem Echolot erhielten wir Informationen über das Vorhandene in uns selbst. Was wir damit taten, ob wir Entscheidungen trafen oder eher alles ignorierten, oblag uns dann selbst. So entsteht Zukunft.

Schließlich legte ich einen kleinen Obulus auf eine Schale und ging wieder nach draußen. Mittlerweile war es dunkel geworden. Ich schaute hoch. Unzählige Sterne zeigten ihr Licht und hinterließen in mir dies geheimnisvolle Empfinden der tausend greifbaren Möglichkeiten. Einfach wundervoll …

Raquel Pedrotti on Unsplash

P.S.: Ich entschied mich für die Feder …