Pfad der Gegensätze

Einfach war anders! Wo lag der Fehler? Egal, was ich tat, immer wieder fehlten einige Sekunden zu einem Gleichklang. Lag es an der schrägen Sonne, die mir fast die Augen verschloss oder lag es an meinem unsteten Fokussieren, um die nächste Bewegung meines Gegenübers einfangen zu können? Wie sollte ich nun erahnen, wie mein Trainingspartner sein Schwert halten würde, damit ich zeitgleich parieren konnte? Ich schaute mich zu den anderen um.

Paare standen sich gegenüber. Einer hielt sein Schwert quer zur Stirn oder aber jeweils links oder rechts sich selbst schützend. Es gab keine bestimmte Reihenfolge. Der Übende antwortete mit einem direkten Schwertschlag (shomen uchi) oder einem quer verlaufenden von der Seite her (kesa giri). Die linke Seite besaß noch die Schwierigkeit eines notwendigen Fußwechsels. Soweit so gut. Langsam nacheinander war dies kein Problem.

Das Ki-Ai meines Trainingspartners schreckte mich auf und fokussierte sofort wieder meine umherschweifenden Gedanken. Immer noch ließ mich der Kampfschrei nicht unberührt. Als gebündelte Energie des Ausführenden brachte er alles in seiner Nähe in Vibration, vor allem mein Zwerchfell. Mir kam es manchmal vor, als würde diese Konzentration und Intensität bunte Abdrücke auf uns selbst hinterlassen, sodass wir am Ende des Unterrichts zufrieden ein wunderschönes Muster erspüren konnten.

Unser Lehrer unterbrach kurz und half ein wenig weiter. Er gab uns den Hinweis, dass die Anfangsbewegung der beiden unterschiedlichen Schläge gleich beginne; im ersten Moment war demnach nicht die Art des notwendigen Schlages interessant, sondern die Tatsache, dass überhaupt einer zu erfolgen hatte! Es galt also als Erstes den Willen zur Bewegung bei meinem Gegenüber zu erkennen.

Die Ausführung sollte dann so fließend erfolgen, dass ein Beobachter nicht wirklich unterscheiden könnte, wer tatsächlich agiert und wer reagiert. In meinen Augen erschien es mir schier unmöglich, so schnell zu sein. Etwas frustriert stellte ich fest, dass ich nach einigen Üben mindestens eine Sekunde für die richtige Reaktion brauchte. Das war nicht fließend, eher stockend. Im Schlachtfeld wäre ich schon längst mausetot.

Wir tauschten wieder die Positionen. Ich betrachtete mein Gegenüber mit seinem Bokken in der Hand, das er gleich in eine unbekannte Richtung halten würde. Konzentriert ließ ich meinen Blick über Hände, Schultern und Arme laufen. Dieser erste Hauch einer Bewegung könnte sich überall verstecken! Außerdem blendete die Sonne. Wie sollte ich da sehen? Ich merkte meine innere Anspannung. So wird das nichts.

Was sah man denn überhaupt, wenn man etwas „sah“? Wenn ich meinen Blick fokussierte, dann lag meine Aufmerksamkeit auf einem Punkt. So wie ein Ki-Ai die eigene Energie bündelte und sozusagen als Laser den Gegner genau traf. Doch ein einzelner Punkt erfasste nur eine Stelle! Ich wollte am liebsten den ganzen Körper meines Gegenübers wahrnehmen; das war aber genau das Gegenteil! Einen Moment stockte ich. War denn Genauigkeit nicht immer punktuell?

Polaritäten mit ihren Gegensatzpaaren bestimmen unser Leben. Sie durchziehen die Dinge, unser Tun und alles, was um uns herum existiert. Ohne ein Yin, fand man kein Yang, nur mit Licht entstand Schatten; in der Wüste gab es Wasser und im Meer die Inseln aus Sand; morgens ging die Sonne auf und abends unter und es gab Sommer wie Winter; Leben pulsierte zwischen den Polen. Warum sollten solche Prinzipien nicht auch mit dem Bokken in der Hand in Erscheinung treten? Wenn ein Ki-Ai mich auf mein Gegenüber fokussierte, gab es dann ein Defokussieren, das ebenso seine Funktion besaß?

Ich betrachtete meinen Trainingspartner, der darauf wartete, dass mein Blick ihm signalisierte, dass ich mit der Übung beginnen wollte. Mein Blick … ein fokussierter Blick war nicht richtig, das stellte ich bereits fest. Was ist mit einem defokussierten? Was ist mit einem Blick, der kein genauer war, sondern dieser spezielle, der alles irgendwie aus dem Augenwinkel betrachtete? Kein Starren auf einen bestimmten Punkt, sondern ein fast in sich gekehrter, der nur noch die Konturen wahrnahm? Schließlich brauchte ich lediglich die Information, dass eine Bewegung kommen würde; woher ganz genau sie nun käme, war in der ersten Sekunde nicht wichtig.

So probierte ich mit meinem Blickwinkel herum, als wäre ich eine Fotografin auf einem Fotoshooting. Die eine Sekunde Reaktionszeit veränderte sich nur wenig, aber ich war eindeutig weniger angespannt, im Grunde schon relaxt, schließlich war alles in einem Blick.

Relaxt ist gut …