Die Brücke des Blickwinkels

Da lag er nun, der mir gänzlich unbekannte Hinterhof, als hätte er sich gerade materialisiert. Auf dem Weg zum Dojo ist mir nie die kleine Zufahrt aufgefallen, die zur anderen Seite des alten Fabrikgebäudes führt. In einem Wendehammer endend fand sich ein großer Platz mit Parkplätzen und einer einfassenden Häuserrückseite. Eine Rampe zeigte noch den Zulieferort für die Rohstoffe der einstigen Fabrik.

Inmitten all der gestapelten Dinge, dem Abgestellten, dem Irgendwann-Gebrauchten, dem Bunten einer vergangenen und jetzigen Zeit fiel mein Blick auf zwei Korbsessel und ein Tischchen. Das war ein Ort zum Kaffeetrinken in der Abendsonne, ein Ort, um Entspannung zu zelebrieren, ein Ort zum Wohlfühlen. Obwohl ich all dies zum ersten Mal sah, empfand ich es nicht als fremd, da mir auf dem weiten Platz bekannte Gesichter entgegenblickten.

So standen wir mit Bedacht gewählten Abständen in der Sonne. Mir kam es vor, als nahm uns das bunte Äußere in die Hände und ließ fremd Empfundenes durch die Finger rieseln; übrig blieben wir, ein Teil einer wirklich guten Gruppe, die allein durch ihr Dasein dem Neuen seine erste Form gab.

Beim Dehnen und Strecken der Muskeln sah ich in den Himmel. Das Helle, das Sonnige und das unvergleichlich Blaue fielen dabei in mein Innerstes. Die bezaubernde Seite des Draußen-Trainierens nahm mich ein und die Widrigkeiten der besonderen Zeit zerrannen im Faltenwurf der abendlichen Stunde.

Gleich einem sich bewegenden Muster, verändern sich in jeder Trainingsstunde die unterschiedlichen Facetten der Kampfkunst; denn ständig kam etwas Neues hinzu, das das bereits Gelernte in einem anderen Licht zeichnete. So auch heute; heute übten wir etwas, was ich mir in seinem eigentlichen Sinne nur schwer vorstellen konnte: Wir übten den Kontakt ohne Kontakt …

Gegenüber stehend betrachtete ich die Bewegungen meiner Trainingspartnerin, die gut zwei Bokkenlängen entfernt mich ebenso betrachtete. Wie sehr war ich in der Vorstellung gefangen, dass ein Kontakt rein körperlich zu sein hat? Gab es einen anderen Weg das Zentrum meines Gegenübers zu erspüren und mein eigenes einzubringen? Andererseits stellte sich natürlich die Frage: Wie sehr begrenzte ich etwas, was ich in seinen Ausmaßen überhaupt nicht einschätzen konnte?

Es galt nun die fließenden Bewegungen des Anderen aufzunehmen, ihnen zu folgen und sich in dies ständig Verändernde hinein zu fühlen. Ein Kopieren oder unbedingtes Folgen eines vom Gegenüber streng vorgegebenen Weges sollten wir vermeiden. Mir erschien das Lösen dieser Aufgabe als eine Gratwanderung über eine schmale Brücke, die verschwand, wenn ich nicht aufpasste.

Am Anfang taten wir genau das, was wir eigentlich nicht tun sollten: Wir kopierten uns gegenseitig. Einer betrachtete den anderen und dessen Regungen, um sie dann zeitverzögert zu reproduzieren. Das war nach einer Weile anstrengend. Im Grunde konnte dies nicht das richtige Ergebnis sein. Im Aikido geschahen die Dinge „leicht“.

Gemeinsam lachend standen wir dann da. Das mit dem Kopieren war durchaus witzig, doch wir wussten, das war noch nicht des Rätsels Lösung. Ich kam mir vor, als probierten wir etwas, was sich nur durch ein nicht direktes Anschauen zeigte, wie ein besonderes Licht oder eine verwunschene Spiegelung.

Darüber nachdenkend, betrachtete ich wieder den Himmel. Jeder sah dort, was er vermutete. Ob es einer Realität entsprach, kann niemand sagen. Wir können nur beschreiben, was wir im Anblick empfanden. Gab es dann überhaupt ein richtig oder falsch? Gab es dann überhaupt DIE Lösung? Oder gab es nur ein Annähern, um sich einer Problematik überhaupt bewusst zu werden?

Jetzt standen wir uns immer noch gegenüber, konzentriert mit dem Fokus auf das, was wir sahen. Unsere Welt bestand in diesem Moment aus zwei Menschen, die sich gegenseitig darin unterstützen wollten, eine Lösung zu finden. Vielleicht war es auch so, dass manche Aufgaben nicht allein gelöst werden können; vielleicht braucht es die Unterstützung eines oder mehrerer anderen, um zu einem Ergebnis zu kommen; vielleicht ist dann ein Gemeinsam die Lösung.

Gemeinsam heißt, dass Seite an Seite gekämpft wird, dass Seite an Seite Hürden genommen werden und dass Seite an Seite darin vertraut wird, dass das Richtige schon kommen möge. Wenn so empfunden wird, dann stehen sich Menschen nicht nur gegenüber, um sich gegenseitig in den Fokus zu nehmen, sondern sie stehen nebeneinander, um das Kommende oder die Problematik ins Auge zu fassen. Aus einem linearen Verlauf wird ein Dreieck, ein gemeinsames Angehen auf etwas Drittes.

Es entsteht ein Fluss der Informationen zwischen Mensch zu Mensch, der nur intuitiv erfassbar ist, gleich dem blauen Himmel, der auf uns herab sah. Es ist dann ein Fallenlassen und auch Vertrauen darauf, das Richtige zu finden, gemeinsam.

Wir beide verzichteten schließlich darauf, genau und exakt, die Bewegung des anderen wiedergeben zu wollen. Wir freuten uns und bewegten uns gleichzeitig, als hörten wir eine gemeinsame Musik; wundersamerweise entstand etwas Synchrones. Das war unsere Lösung.

Einfach schön …