Der Abgrund befand sich schon immer an dieser Stelle, ganz unverhohlen offensichtlich und freundlich in seinem Vorhandensein. Er war da, wie die Sonne, der Mond oder das Universum. Sehenden Auges ignorierte ich seit Jahren diese halbe Armeslänge, denn 30 Zentimeter lagen absolut in meinem Machtbereich und somit voll kontrollierbar.
Die Nacht war kurz, der Morgen früh und ich fühlte mich nur ein klein wenig sehr müde. Auch das ignorierte ich, jedenfalls an diesem Tag. Der Kaffee lief gerade durch, die Sonne erreichte bereits die ersten Grasspitzen und mein Tagesplan schenkte mir Zeit zum Schreiben. Ich liebte diese Zeit, denn Schreiben zog Worte aus dem magischen Nichts, um sie dann fürsorglich um das Konfuse der beginnenden Tagesgedanken zu legen; andere machten sich Lockenwickler ins Haar, um eine gewisse Ordnung ins eigene Weltgefüge zu bringen.
Während mein Laptop nun startete, legte ich ihn kurz zur Seite, um mir den Kaffee zu holen. Mein Auge nahm zwei Bewegungen gleichzeitig wahr: meine eigene, die sich abwandte und die meines Schreibgerätes, das gen Boden vom Sessel rutschte. Es sah überhaupt nicht gefährlich aus. Vielmehr entsprach es einem den Schwerkräften ergebenden Heruntersinken, das nicht einmal einen Klageton zustande brachte. Also ignorierte ich auch diesen unerheblichen Vorgang.
Mit meinem dampfenden Getränk bewaffnet, Füße hoch, Laptop wieder auf den Knien, schaute ich auf den Bildschirm und sah nur noch ein vor Schreck erstarrtes Bild, das anscheinend während meiner Abwesenheit der Medusa ausgeliefert war und keinerlei Bewegung mehr mächtig schien. Mit einem erneuten Hochfahren der Software ergriff das Gerät die Gelegenheit und formulierte für mich ganz allein den aktuellen Sachstand neu:
In blauer Schrift auf dunklem Nichts erschien ein Hilferuf nach Korrektur und Reparatur, um schließlich begleitet von merkwürdigen Geräuschen das Ende des Daseins zu demonstrieren.
Paralysiert von den langsam durchsickernden Tatsachen trank ich verhältnismäßig ruhig meinen Kaffee. Das glaubte ich jetzt nicht! Einen Moment fühlte ich diese Absolutheit des Vergangenen und nicht Veränderbaren. Als kleines Mädchen probierte ich diese Endgültigkeit zu umgehen und ihr mit geschlossenen Augen die Gelegenheit zu geben, es sich nochmals zu überlegen, ob die erscheinende Realität tatsächlich eine solche werden sollte; vielleicht materialisierte sich nur ein verwehender Gedanke, der nur im inneren Auge erschien und es nicht wirklich ernst meinte mit dem Wahrwerden.
Nein, die Realität wollte mir keinen Gefallen tun; auch nach einem Augenschließen war sie, wie sie war, halt eindeutig und im Fall meines Schreibgerätes, ganz simpel kaputt. Etwas perplex betrachtete ich die wenigen Worte. Ich konnte jetzt nicht schreiben! Natürlich besaß mein Haushalt Papier und Bleistift und das nicht wenig, doch … Ich hatte mich so sehr daran gewöhnt, meine Gedanken recht schnell mit dem Hineintippen fixieren zu können. Das Zurückwerfen auf Handschriftliches war ein Downgrade vom Ferrari zum Bobby Car!
Immer noch auf den Bildschirm starrend bemerkte ich, das Losbrausen der Überlegungen, als diskutiere eine auf der linken Schulter positionierte kleine weiße Lichtgestalt mit dem auf der rechten Schulter verweilenden schwarz Vermummten:
E. : „Das ist Jammern auf hohem Niveau! Andere besitzen nicht einmal einen Bleistift mit integriertem Radierer!“
T.: „Wir leben in der modernen Zeit! Die gelb-schwarz gestreiften Dinger sehen nur gut aus!“
E.: „Kannst mal sehen, wohin die moderne Zeit uns gebracht hat! All die seit Jahren gespeicherten Texte sind weg! Das ist krass und wäre ganz bestimmt nicht mit Papier passiert!“
T.: „Die Texte interessieren sie doch überhaupt nicht! Keinen einzigen Gedanken hat sie daran verschwendet; es gab nur Gejammere, weil sie jetzt nicht schreiben kann.
E.: „Du weißt warum! Die alten Texte haben einfach nichts mehr mit ihr zu tun und seien es noch so viele. Heute ist sie eine andere Frau als gestern oder vorgestern, heute weiß sie mehr, als in den Zeiten davor! Sie passen nicht mehr!“
Ich stellte meinen Becher ab, strich mir unbewusst über meine beiden Schultern, klappte meinen Laptop zusammen und holte mir aus dem Keller einen kleinen Schraubendreher. Keine fünf Minuten später lag die eiserne Muschel vor mir. Nach einem Moment der Betrachtung stellte ich sie mir ins Regal. Die inne liegende Perle wollte ich behalten. Sie war ein sichtbarer Teil von mir und vielleicht würde ich sie aus diesem Kasten befreien oder auch nicht …
Die alten Worte waren lediglich eine Ansammlung unvollkommener Gedankengänge, wie Späne, die beim Hobeln entstand. Ich hatte nur bisher versäumt, sie wegzuräumen. Doch im Grunde brauchte ich dies nicht zu tun. Gedanken und Empfindungen waren pure Energie. Energie besaß kein Mindesthaltbarkeitsdatum und auch keine Halbwertzeit. Einmal in die Welt gebracht war sie da, irgendwo, aber da. Brauchte ich mehr?
Nein. Alles blieb, auch ohne mein Zutun.
Die Art der Wahrnehmung der Dinge, der Ereignisse im Alltag, entschied über meine Gefühle und Gedanken und diese wiederum beeinflussten meine Wahrnehmung. Im Grunde könnte ich auch einfach mit dem Finger eine liegende Acht nachziehen, das Ergebnis wäre das Gleiche. Nur manchmal vergessen wir, dass wir unseren Finger heben müssen, um ihn an einer anderen Stelle wieder aufsetzen zu können.

Anm. z. Titel:
Limbi = Name des in dem Buch personifizierte Limbischen Systems. Es meldet blitzschnell Emotionen, die uns über unseren Körper mitgeteilt werden. Posítives geht mit einem Wohlgefühl einher, Negatives mit Schmerz, Müdigkeit und Unlust.
Aus: Werner Tiki Küstenmacher, Limbi, der Weg zum Glück führt durchs Gehirn, Frankfurt, 2014.
Zu Deinem letzten Absatz passt ganz gut die Aussage von Marx „Das Sein verstimmt das Bewußtsein“. Und so, wie Du vorschlägst, den Finger zu heben und an einer anderen Stelle wieder aufzusetzen, sieht Marie das auch als letzte Handlung in dem Videobeitrag von Arte:
https://www.arte.tv/de/videos/081018-005-A/marie-meets-marx-sein-und-bewusstsein/
P.S.
Deinen Vergleich mit den Lockenwicklern finde ich super und die Worte, die Du so elegant aus dem magischen Nichts ziehst ebenfalls.
Ich wünsche Dir noch einen schönen Tag!
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Vielen Dank für den Link! Wirklich interessant, doch auch hier: die Wahrnehmung macht die Gedanken und die Gedanken die Wahrnehmung. Marx war in seiner Sichtweise verhaftet, so wie wir es heute auf unsere Weise sind. Da passt wirklich der im Video erwähnte Satz für damals und heute: „Man muss die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen“, um Dinge positiv zu verändern. Doch nicht jeder empfindet Verhältnisse als versteinert … Eine Diskussion über die Generationen hinweg ist natürlich unfair, da wir die Auswirkungen der damaligen Fehler bereits aus dem Geschichtsunterricht kennen.
Skeptisch bin ich bei dem Gedanken, dass Philosophie nur den oberen Zehntausend möglich ist, weil es ihnen gut geht.
Philosophie mag vielleicht in der Erde der eigenen Situation wurzeln, doch bin ich fest davon überzeugt, dass es in jedem Menschen innewohnt über das Leben, Gott oder die Welt Fragen zu stellen, auf die dann eine Antwort gesucht wird. Egal, wo wir uns befinden, egal, was wir besitzen und auch egal in welcher Situation wir stecken, wir geben nicht auf, ab und zu über den Tellerrand hinweg zu sehen.
Danke Dir, Werner! Ich wünsche Dir noch einen schönen restlichen Abend! Lieben Gruß, Christine
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