Ein Schmetterling mit kalten Füßen

Die silbrig glänzende Spitze des Speeres steckte gut fünf Zentimeter in der Mitte des runden Holz-Tisches. Ein langer Schaft mit einer hellen Maserung führte fast bis unter die Decke; ein wirklicher Hingucker! Ohne nachzudenken, beugte ich mich vor und prüfte die Schärfe des Metalls. Autsch! Ein dünner Blutfaden rann sofort über meine Daumenkuppe. Leise vor mich her fluchend, tastete ich mit der anderen Hand über die Tischplatte. Eingebrannte Zeichen zierten das dicke Holz; verwunschen zeigte sich Schönheit.

„Meine Süße, Mädchen sollten nicht fluchen.“

Geschäftig wuselte Edda um mich herum. Ich lächelte. Für meine Tante blieb ich immer das Mädchen, obwohl das schon ziemlich lange her war. Auf der Rückreise von einem Seminar legte ich einen Zwischenstopp zur Erholung ein. Gerade vor einer Stunde stellte ich mein kleines Auto in den Hof, brachte den Koffer in das Gästezimmer und freute mich unsagbar, hier zu sein. Nun wollten wir frühstücken, wurden aber immer wieder von irgendwelchen hereinschneienden Nachbarn unterbrochen, aber das kannte ich schon. Also schaute ich mich um. In den letzten fünf Jahren schien sich jeder Zentimeter verwandelt zu haben. Alles war neu und doch nicht fremd.

Lachend kam Edda wieder herein. Als ehemalige Dorfärztin besaß sie trotz ihrer fast nun fünfundachtzig Jahren immer noch ein Ohr, für jeden der irgendetwas brauchte. Die Welt konnte untergehen, sie war da und würde es wohl immer sein. Ich vermutete, dass ihre Nachbarn dies wussten und den Arzt aus dem Nachbarort nur selten besuchten, schließlich gab es Edda, die ihr Wissen gerne teilte.

„Meine Süße, Gudrun hatte dich vorhin rauffahren sehen. Schöne Grüße, wir sollen uns die Semmeln schmecken lassen.“ Eines war sicher, Edda würde hier nie verhungern, ständig brachten ihre Nachbarn etwas mit.

„Wie ich sehe, hast du deine Neugier nicht verloren. Zeig mal her.“ Mit einem Griff hielt sie meinen Daumen nah an ihre Augen. Küsste die Wunde und lächelte mich an: „Das heilt ganz schnell.“

Ich lachte, nun fühlte ich mich tatsächlich wie ein kleines Mädchen. Es klopfte schon wieder. Es ging hier zu, wie im Taubenhaus, schrecklich für unser Frühstück, aber irgendwie echt lebendig.

Während ich auf meine Tante wartete, sah ich mich mit dem Kaffeebecher in der Hand weiter im Zimmer um. Große, schwere Balken durchzogen die Decke. An ihnen hingen Kräuterbüschel, Blumenkränze, aber auch praktische Werkzeuge, wie eine Axt, eine kleine Säge, eine Gartenschere und die Lieblingstasse für den Draußen-Kaffee. Die Wände auf der einen Seite leuchteten in einem eigenwilligen Erdton, ein wenig rötlich, als käme die Farbe direkt aus Australien und die andere Seite besaß ein leichtes Grün, wie die Buchen im Frühling. Alle möglichen bearbeiteten Hölzer schmückten Ecken, Kanten und Durchgänge. In diesen Räumen verwirklichte Edda ihre private Seite. Sie war aus vollstem Herzen freischaffende Künstlerin, Tischlerin, Schmiedin und Gärtnerin. Ich schloss meine Augen und roch die Kräuter-Luft; einfach toll.

Mit einem Krug Milch bewaffnet, kam Edda wieder herein, setzte sich und blickte mich dann mit einem verschmitzten Lächeln an:

 „Wo genau hast du gestanden, als du dir den Finger geschnitten hast?“

„Na, am Tisch. Ich wollte nur sehen, ob der Speer scharf war.“

„Natürlich war er scharf. Hier gibt es nichts, was nicht funktioniert, meine Süße. Ich meine, an welcher Stelle am Tisch?“

Etwas verunsichert schaute ich sie an. „Davor?“

Sie lachte: „Da der Tisch rund ist und inmitten des Raumes steht, gibt es einige Möglichkeiten, mein kleiner Schmetterling.“

Ich verstand zwar nicht, warum das nun wichtig war, verwies aber auf die konkrete Stelle.

„Oh.“

Überrascht schaute ich sie an. Das „Oh“ hörte sich irgendwie besorgt an. „Dann lass dich nicht von einem schwarzen Kater zwicken.“, sagte sie und widmete sich mit dem Messer in der Hand den Brötchen.

Prüfend betrachtete ich das Gesicht meiner Tante, die nun schon wieder in die Küche hastete und leise vor sich her murmelte. Aha. Sie besaß einen eigenwilligen Humor und so manches Mal führte sie mich aufs Glatteis, wenn ich nicht aufpasste. Wenn ich recht überlegte, eigentlich fast immer oder besser gesagt: so oft sie konnte. Es war ihr ein Vergnügen, Informationen so zu streuen, dass ihre Gesprächspartner auf gedankliche Umwege landeten, die sich dann als eine kostenfreie Fahrt mit einer offenen Gondel ohne Anschnallgurt ins Tal herausstellten.

Ich wusste aus Erzählungen, dass ihre Mutter auch in diesem Haus gelebt hatte und damals einen fragwürdigen Ruf als Kräuterfrau mit sich trug. Es existierte sogar noch ein Bild, das ich mir als Mädchen oft ansah. Mein Blick wanderte zu dem kleinen eingerahmten Schwarz-Weiß-Foto in der Ecke des Raumes; ich konnte es von hier aus sehen. Oma Juna wirkte wie aus dem Märchen entsprungen: die Haare waren hochgesteckt und wurden mit einem gravierten Holzstab zusammen gehalten. Klein, aber mit geraden Rücken, lächelte sie stolz und strich sich mit schiefen Fingern eine lose Strähne aus dem Gesicht. Ich hatte sie nie kennenlernen dürfen, aber für mich schien sie aus den erzählten Abendgeschichten meiner Kindheit entsprungen. Wenn ich es mir recht überlegte, Edda wurde ihr immer ähnlicher.

Mein Blick fiel auf eine Trommel, die ich bisher noch nicht wahrgenommen hatte. Begeistert ging ich näher und nahm sie von der Wand.

Ein Ruf aus dem Flur ließ mich fast das gute Stück zu Boden fallen. „Und bitte lass die Trommel an der Wand! Sie mag gar nicht, wenn sie jeder in die Hand nimmt …“

Hastig hängte ich sie schnell wieder zurück. Meine Güte, grad noch Glück gehabt. Edda sah mich beim Reinkommen nur davor stehen.

„Ach gut, dass du sie nur anschaust, sonst würde dir dein Milchkaffee überhaupt nicht schmecken.“ Fragend schaute ich meine Tante an.

Verschmitzt blickte sie zurück: „Ich find ja auch, dass sie echt empfindsam ist, aber was soll man da machen?“

Etwas sparsam nickte ich. So langsam befürchtete ich wirklich, dass es meiner Tante nicht mehr gut bekam, allein im Haus zu leben. Wobei man das so nicht sagen konnte, bei dem Betrieb hier. Neugierig zeigte ich auf all die Brandzeichen an den Kunstwerken.

„Das sieht echt toll aus, Edda. Haben all die Zeichen eine Bedeutung?“

„Natürlich, meine Süße! Ich stelle doch nichts ohne Bedeutung her!“, erwiderte Edda etwas entrüstet.

Wie konnte ich nur so etwas fragen! Grinsend setzte ich mich mit meinem Kaffee auf den nächstbesten Stuhl am Tisch und bereute es sofort. Ein hohes Kreischen durchschnitt die Stille, Schmerz entflammte auf meiner rechten Hinterseite, mein Kaffeebecher zersprang auf den Fliesen und mein Herz probierte einen Purzelbaum.

Völlig gelassen betrachtete Edda das Kuddelmuddel und äußerte sich nur mit einem „Siehste! Da haben wir es ja schon.“

Ich sah nur noch ein schwarzes Etwas aus dem geöffneten Fenster springen. Etwas fassungslos schaute ich fragend zu meiner Tante.

„Peter! So ist er halt. Im Tierheim lebte er fast zwei Jahre, ohne von irgendjemanden mitgenommen zu werden. Niemand wollte ihn haben, weil er seine Zuneigung oft etwas schmerzhaft zeigt. Also nahm ich ihn, jeder braucht ein Zuhause.“

Edda lächelte verschmitzt: „Also, fühl dich geliebt!“

Jetzt musste ich lachen und sammelte schnell die Scherben des Bechers zusammen. Schon wieder klopfte es an der Tür. Ich seufzte. So kämen wir niemals zu unserem Frühstück. Nachdem ich das Durcheinander wieder beseitig hatte, nahm ich mir einen neuen Becher mit Kaffee und schenkte mir großzügig von der Milch aus der Kanne nach.

Neugierig ging ich wieder zum Tisch und fuhr mit den Fingern über die eingebrannten Zeichen, während ich aus meinem Becher trank. Ahhh! Verblüfft starrte ich in mein Getränk. Das schmeckte echt fürchterlich! Die Milch musste schlecht sein! Aber es waren keine Flocken im heißen Kaffee zu sehen. Ein Gedanke ließ mich zur Wand starren. Hmmm …

Wenn ich nicht so weltlich veranlagt wäre, könnte ich wirklich an all die alten Geschichten glauben, die meine Tante mir mit einem Kakao in der Hand erzählte. Es gab sogar einen schwarzen Kater! Vergnügt malte ich mir in meinem Gedanken aus, was mir als Kind zu diesem Thema eingefallen wäre.

Kurzentschlossen ging ich mit meinem Kaffee nach draußen zu Edda; langsam war ich neugierig, ob der vielen Besucher. Auf dem alten Terrassentisch standen verschiedene längliche Holzkisten, deren Inhalt von zwei Nachbarn hitzig diskutiert wurde.

„Ach gut, dass du da bist, Süße. Hier halt mal.“

Edda drückte mir eine Holzplanke in die Hand und positionierte mich auf dem Rasen, entnahm meinen Fingern den Kaffeebecher und drückte sie dem unweit stehenden Nachbarn in die Hand. Etwas verwirrt ließ ich es mit mir geschehen. Meine Tante zupfte noch an mir herum, sodass mein Arm ausgestreckt zur Seite die Holzplanke hielt. Sie selbst ging dann zum Tisch zurück, nahm etwas aus der Kiste, griff mit der Hand hinter die Eingangstür und nahm den Langbogen aus der Halterung.

Bevor ich überhaupt irgendetwas realisierte, steckte ein zitternder Pfeil im Herzen des von mir gehaltenen Holzbrettes. Zufrieden nickte Edda und hängte den Bogen zurück.

„So, Hinnark, haste das gesehen? So geht das. Mit meinen Pfeilen kannste gar nicht verlieren.“

Begeistert diskutierte eine dazu gekommene Nachbarin mit Edda über den gelungenen Schuss und ich selbst stand da wie angewurzelt. Ich wusste, dass meine Tante die beste Schützin aus dem ganzen Tal war, doch ich wäre gern gefragt worden. Langsam verstand ich hier den Auftrieb. Die Nachbarn kauften die selbst gebauten Pfeile von Edda. Vermutlich wird in nächster Zeit das Dorffest mit den Langbogen-Wettkämpfen stattfinden und Eddas Pfeile waren einfach perfekt.

Tief durchatmend ging ich zu Hinnark, um mir meinen Kaffee-Becher abzuholen. Er sah mich grinsend an und klopfte mir wohlwollend auf die Schulter. „Sie ist schon ne Marke, nicht wahr?“

Bevor er mir den Kaffee wieder gab, schaute er prüfend in den Becher: „Du trinkst Kaffee mit Eddas Milch? Nee, das würd mir nicht schmecken …“

Fragend schaute ich ihn an.

„Naja, wenn man Sojamilch mag … sie verträgt die normale doch nicht mehr …“

Die Trommel von der Wand …

Unsere Wirklichkeit wird durch Filter verändert; Filter, die unsere Umgebung und Geschehenes in ihrer Bedeutung für uns ständig anders erscheinen lassen. Irgendwo in uns sind diese Reduzierer versteckt, die nur bedingt Informationen zulassen. Es gab eine Zeit, da haderte ich damit, als verstecke sich die Welt. Mittlerweile sah ich aber das kluge Vorgehen der Natur, die uns die Medizin sozusagen nur tröpfchenweise verabreicht. Es gab meistens immer nur gerade so viel, damit wir uns mit kleinen Schritten weiter entwickeln. Reagieren wir aber nicht darauf, wird schon mal mit Schwung nachgeschenkt.

Mir ist aber unbegreiflich, welche Kriterien das Sagen haben oder den Zugang der Informationen regeln. Da kann ich noch so viel mit diesem System hadern, da kann ich noch so aufmerksam sein und trotzdem werde ich es nicht verhindern können. Denn dies System ist ein Teil des menschlichen Daseins, was immer wir auch tun mögen.

So lernen wir mit jedem Atemzug dazu, ein bisschen hier und ein bisschen da. So ganz nebenbei fließen Informationen, die uns verändern, ohne dass wir es merken. Das sammelt sich! Dann wachen wir morgens auf und sind anders, empfinden anders, sehen anders oder besser gesagt: Wir sind gänzlich neu, wie eine Minestrone, die bei jedem Kochen anders schmeckt. Aufregend, oder?