Das Lied des Stabes

Aikido ohne andere, ohne ein auf der Matte stehen, ohne ein Herumwirbeln, ohne diesen Lernprozess in alle Richtungen? Ich fühlte mich, als wäre eine Süßigkeiten-Dose vor meinen Augen geschlossen worden. Die wirkliche Herausforderung lag nun darin, es zu akzeptieren und vor allem nicht darüber zu verzagen, weil ich es ja anders haben wollte.

Es gab so vieles zu lernen! Vielleicht ist nun die Zeit der Wiederholung, des genauen Betrachtens und des Übens mit dem bisherigen Wissen. Mir fiel dazu der alte Film „Karate-Kid“ ein. Der Meister ließ den Jungen Stunden um Stunden Dinge tun, die der Schüler nicht verstand. Der Sinn in seinem Tun erschloss sich überhaupt nicht und nach kurzer Zeit war der Schüler fest davon überzeugt, dass er bereits alles erfasst hatte, was die Aufgabe hergab; und doch lernte er mit jeder Stunde so viel mehr.

Wie gut verstand ich das wirklich, was ich in all den Trainingsstunden ausprobierte? Wie gut konnte ich es umsetzen, rekapitulieren und vor allem ohne irgendwelche Zäsuren flüssig ausführen? Hmmm … Da war Raum, ziemlich viel Raum …

Die Sonne schenkt uns diese Tage viel Licht, so verlegte ich mein Üben nach draußen. Vielleicht war der Boden ein wenig kalt für die nackten Füße, aber irgendwie konnte ich mir Aikido mit Schuhen überhaupt nicht vorstellen. Außerdem bin ich eine Norddeutsche, sozusagen Wind und Wetter erprobt.

Zum Warmwerden sind Waffenübungen perfekt. Mein Traum war, den Stab so wirbeln zu können, wie ich es im Dojo gesehen hatte. Damit sich mein Körper an die Abmaße der Waffe wieder erinnerte, begann ich langsam. Bedächtig zog ich Achten. Ich mochte die Lemniskate, ein Symbol der Unendlichkeit, ein Symbol, das keine Grenzen besaß …

Meine Bewegungen waren ok, aber noch weit entfernt von meinen Vorstellungen. Vielleicht musste ich mich da mutig hineinwerfen? Ich veränderte die Geschwindigkeit und nach den ersten Umdrehungen betrachtete ich für einen winzigen Moment ganz begeistert mein Ergebnis, um sogleich eines Besseren belehrt zu werden: Mit Schwung verschwand mein Jo zwischen den Primeln. Ich war froh, dass dabei nicht alle ihre Köpfe verloren. Also, das war ausbaufähig …

Dann übte ich all die Geschicklichkeitsübungen, kombiniert mit Schritten und Drehungen, die mir im ersten Moment einfielen. Etwas außer Puste hielt ich einen Moment inne. Hmm … Irgendetwas machte mich misstrauisch.

Im Dojo gab es keine Übung, die nicht tausend Verbesserungsmöglichkeiten offenbarte. Entweder stand ich nicht tief genug, griff den Stab nicht an der richtigen Stelle, drehte zu früh oder zu spät, stand nicht aufrecht oder legte den Schwerpunkt an die falsche Stelle. Seufzend setzte ich mich auf eine Treppenstufe an der Seite.

Wie sollte ich ohne Lehrer, der meine Bewegungen beobachtete, mein Wissen verbessern? Das ging doch gar nicht! Da war niemand, der meine Haltung korrigierte; da war niemand, der mir aufzeigte, dass ich etwas Wichtiges vergessen hatte; da war niemand, der mir einen Spiegel vorhielt, um das Eigene erkennen zu können! Etwas frustriert blickte ich in die Sonne und schloss dann die Augen.

War es das? Wollte ich aufgrund dieses Gedankens mein Üben wirklich in den nächsten Wochen deshalb sein lassen? Wollte ich wirklich diese Zeit wegen eines Nicht-Habens vergeuden? Wollte ich das?

Natürlich nicht! Ich stand wieder auf und nahm die Waffe in die Hand. Vorsichtig balancierte ich sie auf meinem Zeigefinger. Sie pendelte hin und her, hoch und runter, je nach meinem Verändern des inneren Schwerpunktes. Schließlich griff ich mit der anderen Hand zu und drehte langsam den Stab. Kreise. Spiralen. Energie …

Was machte Aikido aus? Ein Aikidoka ging mit den Impulsen, er ging mit den Spiralen, die durch die Bewegung sichtbar wurden. Jegliche Technik sollte sich dem fügen. Egal, ob eine Form tausend Details besaß oder nur drei, beide würden ihre Wirkkraft erst mit dem Einbetten in die gegebenen Impulse voll und ganz entwickeln.

So schwang ich den Jo, erst langsam, dann mit kleinen Kreisen, dann mit großen. Immer wieder blieb ich mit dem Stab irgendwo hängen, entweder am Rasen oder an mir selbst. Immer öfter schaffte der Schwung aber auch seine Kreise. Für einen Moment blieb ich stehen und wiederholte eine bestimmte Drehung. Erst langsam, dann immer schneller; erst leicht, dann mit starker Intensität. Da! Begeistert wiederholte ich und wiederholte nochmals, bis ich mir ganz sicher war.

Wenn alles stimmte, wenn der Stab nirgendwo hängen blieb, wenn mein Innerstes sich völlig in den Schlag hineinlegte und der Schwung sich entfalten durfte, dann hörte ich es. Ich hörte den Stab! Für die einen war es vielleicht ein Teilen des Luftwiderstandes, doch für mich war es etwas anderes:

Mein Stab sang.

Andere Zeiten brauchen andere Herangehensweisen. Wenn wir aufhören zu lernen, dann ist dies nicht nur Stagnation, sondern der Verzicht auf Leben; es ist ständig in uns in Bewegung und möchte seinen Ausdruck finden. Lernen gehört zu den unendlichen Dingen. Gleich der Lemniskate rotiert es wie ein Schmetterling, der Neues erkundet.

Müssen wir auf unsere Lehrer verzichten, bleibt uns trotzdem noch so viel. Es sind dann unsere Sinne, die uns an die Hand nehmen. Der Weg ist überall und …

… manchmal ist es dann ein Lied, das uns führt.