Versteckte Werkzeuge

Der riesengroße Vollmond schaute durch die Fenster; vollkommen, stark und präsent. Er besaß etwas, worum wir uns bemühten und manchmal schwer umsetzen konnten; jedenfalls traf dies auf mich zu. Das Streben, dem eigenen Tun diese Ganzheit, diese in sich fassende Präsenz zu verleihen, legte den Fokus auf ein immerwährendes Dazulernen.

So übten wir eine Technik mit mehreren Sequenzen, die es in sich hatten. Stück für Stück erklärte unser Lehrer die Schwierigkeiten der einzelnen Teile. Letztendlich reihte er diese aneinander. Während ich übte, ergaben sich aber durch die unterschiedlichen Teile kleine Pausen, die mich immer wieder innehalten ließen. Das war sinnvoll, um sich der Technik zu nähern, aber ein gesamter Bewegungsablauf mit seiner ausgeprägten Wirkung entfaltete sich auf diese Weise nur schwer.

Ich probierte es mit Schnelligkeit. Die Pausen wurden kleiner, verschwanden aber nicht. Wie konnte ich also in einer Bewegungsabfolge diese Zäsuren vermeiden? Schnelligkeit war anscheinend nicht die Lösung. Als ich Matthias zuhörte, dachte ich an diese verwirrenden Bilder, die je nach Betrachtungswinkel etwas anderes darstellen konnten. Verschiedenes war da, ohne dass ich es sehen konnte, jedenfalls nicht gleichzeitig.

Wenn ich mir ein Kleid nähte, dann gab es einen Ärmel, die Vorderseite, die Rückseite, den Kragen und vielleicht noch etwas Besonderes für die Taille. Jedes einzelne Teil benötigte etwas Spezielles in meiner Kunstfertigkeit, aber erst zusammen genäht, durfte sich mein Werk ein Kleid nennen. Die Summe aller Teile ergab etwas Neues. So auch auf der Matte. Ich musste die Teile aneinanderfügen und verbinden. Mein Kleid brauchte einen Faden …

Wie sollte ich dies Kunstwerk vollbringen und Lücken zwischen den Handlungen schließen, ohne die Lösung in der Schnelligkeit zu suchen? Das war echt schwierig. Vor allem, weil mir klar wurde, dass Worte nur ein kleines Hilfsmittel waren, um sich dem zu nähern. Unser Lehrer zeigte den Unterschied. Klar und deutlich konnte ich ihn sehen. Wie machte er das?

Matthias erklärte uns, das eine Bewegung, sei es das Heben der Hand oder der Schritt eines Fußes Energie benötigte. Es war dann ein innerliches Aufladen der in uns liegenden Kraft und ein Abladen mit dem Tun. Mit dem Abladen entstünde normalerweise eine kleine Pause, um mit einem neuen Aufladen etwas Neues zu tun. Roboter machen das so; dies sah man dann auch in ihren ruckartigen Bewegungen ganz deutlich. Doch wir Menschen verfügten über etwas, das das Erscheinungsbild veränderte. Wir besaßen das Geheimnis der inne liegenden Dualität! Das Abladen der Energie konnte gleichzeitig ein Aufladen sein und das in einem!

Oh man … als ich es hörte, konnte ich es gedanklich überhaupt nicht greifen, also nicht wirklich. Ich sah es aber in der Vorführung. Mein Blick wanderte wieder aus dem Fenster. Der Mond sandte uns seine Helligkeit; diese nahm ich wahr, weil ich auch Dunkelheit kannte.

Dualitäten! Wir erkannten sie mit dem gegenpoligen Effekt. Das eine konnte ohne das andere nicht existieren. So standen sie nicht nur ergänzend gegenüber, sondern sie waren Vorder- und Rückseite einer Sache! Also musste ich mich von der Verortung lösen! Gegenteiliges konnte an einem Ort sein! Mein Blick ging zurück ins Dojo. Aufladen und Entladen besaßen zeitlich gesehen eine Verortung. Sie fanden gleichzeitig statt.

Diese Doppelnatur besaß eine Spannung; es zog sie zueinander, denn sie gehörten zusammen. Gleich einer unsichtbaren Brücke zwischen zwei Seiten eines Canyons zuckte Energie auf die andere Seite. Genau das konnten wir nutzen! Wie bei einem Dynamo erzeugten wir etwas, was die Handlungen verband. So schlossen sich Lücken. Tat ich das eine, war mein Körper schon beim Nächsten und wusste, was kommen würde. Es waren nicht die Gedanken, sondern mein Körper, der dies tat. Gleich dem Einanderreihen von Schritten, wenn mein Weg mich irgendwohin führte; ich bewegte mich, ohne zu denken. Vielleicht ließ sich dies Phänomen als fließende, körperliche Aufmerksamkeit bezeichnen, die wie ein Laserstrahl durch das Tun führte.

Manchmal fingen Worte Tatsachen nur schwer ein. Erst im Tun zeigte sich dann das Vorhandene und bewies uns, was möglich war. Lernen und Üben eröffnete unglaubliche Abenteuerspielplätze, deren Eingang wir in uns selbst fanden.

Echt spannend!


Jeder Einzelne ist etwas Ganzes. Manchmal haben wir es vergessen und manchmal müssen wir uns dies Wissen erst aneignen. Wenn wir unsere inne liegenden Werkzeuge kennen, rücken wir dieser wundervollen Empfindung des Ganzseins immer näher.

Photo by Martin Damboldt from Pexels


Trainer: Matthias Lange, 5. Dan

Trainingsort: https://aikidozentrum.com/