Na klasse! Nicht, dass ich es von vornherein gewusst hätte! Es musste wohl so sein. Wahrscheinlich saß das Leben breit grinsend hinter der nächsten Ecke und wartete nun etwas süffisant ab, wie ich wohl aus dieser Situation wieder herauskam. Mein Koffer mit der Ersatzkleidung hing noch irgendwo im Orbit zwischen Frankfurt und München und würde vermutlich erst heute Abend im Hotel in meiner Reichweite sein. Bis dahin galt es nun gut sechs Stunden zu überbrücken, ohne mir darüber Gedanken zu machen, was meine Gesprächspartner gerade wohl von mir dachten.
Einige nicht zu übersehende Spritzer roter Tomatensoße prangten seit einer halben Stunde auf meiner weißen Bluse; ich könnte mir genauso gut einen roten Hinweispfeil anheften, der besäße die gleiche Kraft der Aufmerksamkeit. Bei meinen ersten drei Gesprächspartnern war es mir noch wichtig zu erwähnen, dass ich nicht selbst dies Missgeschick verursacht hatte, denn ich konnte vernünftig essen. Der Schuldige war ein junger Mann, der sich im Restaurant zu mir an den Tisch setzte. Er bekam seine Nudeln nicht richtig in den Griff und probte ein wenig mit den Schwer- und Fliehkräften. Wir erstarrten beidseitig für einen Moment zu Eis, bis er aufsprang und mit seiner Serviette das Rot der Soße behelfsmäßig weiter verteilte.
Dinge geschehen und trotzdem wird der Tag vergehen … irgendwie beruhigend, dass sich dieser Satz reimte, er schien so zu gehören …
Ich betrachtete mich in der Spiegelwand der Damentoilette. Einen kleinen Moment redete ich mir ein, dass es gar nicht schlimm sei, schließlich zählte der Mensch und nicht, was er mit seiner Kleidung aus sich machte. Schon beim Denken, musste ich grinsen. Mein Vortrag in einer halben Stunde würde unsere energetischen Möglichkeiten in einem Miteinander und vor allem unsere bisher oft unentdeckten Fähigkeiten thematisieren. Ein besseres Beispiel konnte ich gar nicht bieten. Ich präsentierte mich sozusagen als Opfer der Umstände, als perfektes Anschauungsmaterial.
Trotzdem. Ich starrte weiter. Ich war auch nur ein Mensch; zusammengebacken aus Erziehung, schlechter Erfahrung und einer Unmenge daraus gezogenen Fehlschlüssen. In den Generationen vor mir war es so wichtig, was der Nachbar, der Entgegenkommende, der Fremde von einem sagte oder dachte. Alles musste pikobello sein. Es musste einer Norm entsprechen, die sehr straffe Zügel anzog und als Zugseil zum Handeln ihr Unwesen trieb.
Ich konnte diese Spuren in mir sehen und ich wollte es nicht! Wie entzog man sich dem Einfluss einer inne liegenden Prägung? Das Tun meiner Vorfahren brannte in meinen Adern, wie mein eigenes, alles war vorhanden. Ignoranz schien der schlechteste Weg, da konnte ich mir gleich alles abschneiden. Der Mensch war kein losgelöstes Individuum! Wir waren immer eingebunden, auf mehreren Ebenen, auch wenn wir es nicht wollten. Geschichte, vor allem die eigene, begann nicht mit der Geburt, sondern bereits davor. Kein esoterisches Gedankengut begründete dies, sondern, jeder, der ein wenig in sich selbst hinein horchte, wusste es ganz genau.
Die Kunst lag nun darin, Kreise zu durchbrechen. Ich musste Energie investieren, um Dinge zu verändern, die andere irgendwann vorgegeben hatten. Nichts musste so bleiben, wie es war, alles durfte seinen Anfang bei einem selbst nehmen.
Mein Blick fiel wieder in den Spiegel. Ahhh! Ich war echt gestresst. Es war viel einfacher, etwas zu erkennen, als es wirklich umzusetzen! Vor allem, wenn nicht die Zeit blieb, um sich Kaffee trinkender Weise einer Problematik zu nähern.
Brennende Nervosität überkam mich. Ich wusste ganz genau, dass in meinen Tiefen bereits ein innerer Plan zusammen geschustert wurde, der mir etwas abverlangte. Standfestigkeit erarbeitete ich mir bei Öffentlichkeitsarbeiten immer mit guter Vorbereitung. Der Blick auf die Uhr verriet mir aber nun, dass ich mit dem Spiegelstarren bereits zehn Minuten verschwendete. Mein Zwerchfell vibrierte, ein sicheres Zeichen für Aufregung und flaches Atmen.
Oh man … atme richtig! Der Atem war ein Instrument des Verbindens und des Festhaltens. So erlaubte ich mir mit meinen gut isolierenden Stille-Kopfhörern fünf weitere Minuten zu investieren. Natürlich kamen Gedanken, aber ich schickte sie weiter; das ging überraschenderweise ziemlich gut.
Als ich meine Augen öffnete, sah ich in die fragenden Gesichter zweier Frauen, die mich anstarrten.
„Alles ok?“
„Jup, ich brauchte nur einen Moment der Stille.“
Die mir am nächsten stehende Frau schaute auf meine Bluse: „Oh nein, das ist ja schrecklich!“
Jetzt musste ich lachen. Ich freute mich. Ich freute mich, weil es sich nicht mehr so anfühlte … Dinge geschehen und trotzdem wird der Tag vergehen …
Was soll ich sagen? Der Beginn meines Vortrages war mit viel Gelächter verbunden. Das hob meine Stimmung und führte auch durch meine wichtigen Punkte, als sei es gerade dafür gedacht gewesen. Ich wagte es, etwas Kleines zu verändern, was mir selbst groß erschien.
Altes durfte zeigen, es durfte Sackgassen offenlegen, es durfte mahnen und verweisen, aber es durfte nicht binden! Wahrscheinlich war genau dies das Geschenk unserer Vorfahren. Sie schenkten uns bereits gegangene Wege, sodass unser Blick in eine andere Richtung schweifen konnte.
Naja, in Zukunft wird trotzdem in meinem Handgepäck eine zweite Bluse verstaut sein … sicher ist sicher.
Anm. z. Bild: Photo by Tommy Lisbin on Unsplash
Hinter der nächsten Ecke sitze auch ich breit grinsend über Deine tolle Erzählung!
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Jetzt ist das Nieselwetter gar nicht mehr schlimm … ich freue mich 😀 danke Dir!
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Tolle Herleitung. Ja, die Stimmen von früher spuken einem immer mal wieder im Kopf herum. Doch Gelegenheiten nutzen, sich ihnen stellen und erkennen, es sind bloß Meinungen: das ist DER WEG. Danke!
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Danke, Susanne! Das sehe ich auch so. Nur manchmal ist es schwierig, vom Erkennen in die Umsetzung zu kommen … alles braucht wohl seine Zeit …
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Ja, alles braucht seine Zeit, das erlebe ich auch so, Christine. Doch erst wenn etwas, sprich Automatismen oder Gewohnheiten, ins Bewußtsein gelangen haben wir die Chance, aus der Routine auszusteigen und uns neu zu orientieren. Ich finde dein Beispiel großartig – denn obwohl es banal klingt (Sauce auf der Bluse) ist wunderbar mit dir nachzuvollziehen, was alles im Inneren dadurch geweckt wird. Und vermutlich hat jede/r das oder ähnliches schon erlebt und kann für das nächste Mal die Chancen ausloten, sich darüber zu erheben. Durch deine Erzählung kann es nun im Innern ankern.
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Ich freue mich, danke Susanne!
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👍🏼
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😀
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