Ganz oder gar nicht

Mit einer verdrehten Perspektive lag mein Gesicht auf der Matte und der Körper kam mit Schwung hinterher. Fast gleichzeitig fiel ein anderer Angreifer neben mir zu Boden und befand sich ebenfalls mit seinem Kopf auf der Matte. Ein Blick und wir beide mussten lächeln. Das fühlte sich fast wie Synchronschwimmen an. Ich liebte solche Momente. Sie waren so winzig, doch waren sie essenzielle Bausteine in einer guten Gruppe. Sie hoben das Herz, sie trugen Energie und sie gaben das Gefühl des Dazugehörens. In solch einem Moment ist alles da: man selbst, die Gedanken, der Körper und auch das Empfinden mit dem Tun die Welt zu umfassen.

Das Maß an intensiv Vorhandenen fand sich überall, in den Waffenstunden erschien es mir aber besonders ausgeprägt. Mit dem Stab in der Hand übten wir heute eine Abfolge, die mit einem Stoß zum Hals ihren Anfang nahm. Eine gefährliche Sache, die schon ein wenig Übung abverlangte. Um niemand zu verletzen, brauchte es in erster Linie vollste Aufmerksamkeit. Diese war so oder so auf der Matte vonnöten, doch mit den Waffen zeigte sich das Wesentliche in aller Offenheit und mit Nachdruck: Wer präsent war, gewann.

Es brauchte Übung, um mit einer Körperdrehung den Stab genau vor dem Kehlkopf zu stoppen. Natürlich war jeder vorsichtig! Ungeübte hielten üblicherweise sich etwas zurück und nahmen automatisch dadurch viel zu viel Abstand.

Viele Informationen mussten gleichzeitig verarbeitet und umgesetzt sein; Sehen, Spüren und Bewegen flossen zusammen als eine einzelne Handlung. Wie viel kannte ich von mir selbst? Wie viel Körperbeherrschung war mir in den bisherigen Lebensjahren mitgegeben worden oder hatte ich mir bereits antrainiert? Wie sah es mit dem Einschätzungsvermögen aus? Besaß ich einen Blick für Distanz und Nähe? Kannte ich die Abmaße meiner Waffe bereits gut genug?

Mögen die Übungen in den kleinen Bewegungen noch so simpel erscheinen, sie waren es nicht! Eine winzige Drehung konnte einfach und schnell getan sein. Mal eben, um sie einfach zu tun; mal eben, um weiter zu kommen, um ein Ziel zu erreichen; mal eben, um sich etwas anderen Großem oder Wichtigem zu nähern. Was war denn ein „mal eben“? Führte dies überhaupt irgendwo hin? War dies nicht eine Sackgasse ohne Schild, die zu einem Umweg wurde, der Zeit kostete?

Der Unterschied im Tun wurde in der Betrachtung sofort sichtbar. Das eine war langweilig, halt mal eben getan. Doch das andere! Das andere hatte es in sich! Das andere war ein Versetzen der Zeit, als stünde man auf dem Schlachtfeld. Es war ein Betrachten in gefühlter minutiöser Zeitlupe, um die Farben mit ihrer inne liegenden Kraft überdeutlich zu empfinden. Die Ernsthaftigkeit hinterließ Gänsehaut; sie hinterließ die Gravur des Ausführenden. So versteckte sich Energie im kleinen Detail, die schließlich in überzeugender Glaubhaftigkeit ihre Wirkung zeigte.

Wie intensiv können wir werden, wenn wir etwas in den Fokus nahmen? Wie viel Außen ließ sich ausblenden, damit diese Zielgerichtetheit alles Wichtige berücksichtigen konnte? Vor allem: Für wie wichtig erachteten wir das, was wir gerade in einem Moment taten?

Da gab es markante Unterschiede! Vielleicht kommt gerade das Wort „markant“ in die Nähe der Wahrheit: Etwas ist einprägsam, besitzt Charakter, ist eigenwillig anziehend und vor allem glaubhaft, weil es echt ist. Solch ausgeprägten Momente fügten sich dann zu einer Gegenwärtigkeit, die wir nur über unsere Sinne empfanden, denn es gab gefühlt kein Vorher und kein Nachher.

Jeder besaß eine andere Definition von Leben. In meinen Augen war es ein Lächeln am Abend für eine Sekunde irgendwo zwischendrin, das zeigte, dass der wichtigste Mensch auf der Welt immer nur derjenige sein kann, dem wir gerade in diesem einen Moment gegenüber standen. Jeder ist es wert, diese Aufmerksamkeit geschenkt zu bekommen … einfach so.


Trainerin: Julia Wagner, 4. Dan

Trainingsort: https://aikidozentrum.com/