Meine Hände besaßen schmerzende Druckstellen, doch ich konnte nicht aufhören … der Abend versank bis auf eine kleine Lampe am Tisch in der Dunkelheit. Weiches Winterfell meines Hovawarts wärmte mir die Füße und gab mir das Gefühl, an einem Lagerfeuer zu sitzen. Stille fokussierte mein Tun.
Vor mir lag ein Ast von einem Baum, der den letzten Sturm nicht schaffte. Am frühen Morgen erstreckte er sich quer über den Waldweg und katapultierte sich dadurch in mein Bewusstsein. Das war kurz vor dem Neumond. Also lag hier in meinem Blickfeld Mondholz, dem besondere Eigenschaften zugesprochen werden. Es sollte nicht so faulen, nicht so von Schädlingen befallen werden, nicht so schwinden und sogar bei einem Brand nicht so gut brennen. Naja, brennen tat es, die Schnittreste wurden in meinem Holzofen ebenso zu Asche, wie alle übrigen Scheiten.
Vorsichtig strich ich mit den Fingern über die entrindeten Stellen. Esche! Was wusste ich bisher von diesem Baum? Nicht besonders viel, eigentlich so gut wie gar nichts, also nichts. Seitdem die mitgenommenen Äste bei mir lagen, änderte ich diese Tatsache, um das zu verstehen, was ich bearbeiten wollte. Wir rückten dadurch näher zusammen, als hätte man sich die Hände geschüttelt und die Vornamen ausgetauscht.
Als ich einen Moment hochschaute, sah ich durch die Fenster nur schemenhaft das winterliche Grün, aber weiter oben zeigte sich die Mondsichel. Dieser uns umkreisende Planet bewegte so vieles! Er verursachte Ebbe und Flut, er inspirierte Dichter und Denker zu allen möglichen Ausdrucksformen und sogar mich als Frau nahm er in seinen Bann. Mystik schien von ihm auszugehen, als er hätte er sie erfunden. Was ließ uns dabei so nachdenklich werden? Bedeutet es nicht schlicht und einfach „geheimnisvoll“, weil wir wenig wussten? Ging es uns wie den Menschen im Mittelalter, die sich so viele Naturphänomene nicht erklären konnten?
Obwohl ich in den letzten Stunden nur ein klein wenig an den Voraussetzungen für etwas Schönen arbeitete, hatte ich das Gefühl, etwas Besonderes in den Händen zu halten. Was geschah wirklich mit einem Kunstwerk, während es gefertigt wurde? Wer gab ihm diese Bedeutung, die wir während einer Betrachtung eines fertigen Stückes in unserem Innersten empfanden? Was gab ich in all meinen konzentrierten Stunden dem Holz mit? War es von Belang, ob ich positiv oder negativ dachte? War es von Belang, ob ich meine Aufmerksamkeit voll und ganz einfließen ließ oder ob ich es nebenbei erstellte, wie einen Strick-Schal, der beim Fernsehen entstand?
Dinge nahmen Empfindungen an, davon war ich überzeugt, gleich Wohn-Räume, die Leid oder Liebe erfuhren. Sie erhielten eine unsichtbare Signatur, wie Gandalfs geheimes Zeichen an Bilbos Holztür. Wir gaben unsere Energien mit, immer wenn wir jemanden trafen. Wer kannte nicht das Gefühl, wenn wir uns nach einem Besuch völlig ausgelaugt fühlten oder auch himmelhochjauchzend beschwingt nach Hause gingen? In einem Miteinander bekamen wir etwas und wir gaben etwas. Die Güte des Inhalts spiegelten unsere Empfindungen.
Was hieß es denn, ein Wesen zu sein oder eines zu besitzen? Schaute ich mir die Definition (s.u.) an, so ergab, dass der „Mensch“ lediglich eine Möglichkeit ausmachte. Betrachtete ich all die anderen Erklärungen, so besaß jedes Ding, jedes Material, jedes uns umgebendes „Etwas“ sein Wesen. Wenn dem so ist, dann konnten wir uns mit diesem austauschen, so wie wir es mit jedem anderen Menschen oder Tier taten. Wir besaßen mit allem eine Verbindung, die wir nutzen oder ignorieren konnten.
Das Halbdunkel lag um mich herum und mein Schnitzen ergab das einzige Geräusch zur späten Stunde. Ich sah in meinen Gedanken die Esche noch am Wegesrand stehen. Ich sah sie, wie sie sich mit vollem Laub der Sonne entgegenstreckte. Der Wind öffnete ihr Dach aus Zweigen, um einzelne Sonnenfunken auf mein Gesicht herabfallen zu lassen. So zauberte sie mir nun ein Lächeln, das die äußere Ruhe in mein Inneres trug.
Vielleicht gab es deshalb Kunst. Es war konservierte Energie, die wir uns abholen konnten. Fokussierte Aufmerksamkeit wurde zu einem Anschauungsobjekt, das je nach Art und Sinn des Betrachters sein Wesen besaß und etwas gab. Das Gefüge zwischen Betrachter und Objekt bestimmte über Genuss oder nichtssagendes Schweigen.
Innerlich ganz leise geworden, strich ich über das eigenwillige Holz und wunderte mich nicht mehr über meine Gedanken … eine Esche, was soll ich sagen?
Anm. z. Titel:
Yggdrasil: Die Weltenesche oder der Weltenbaum, wie Yggdrasil auch genannt wird, steht in der germanischen Mythologie in einem vielseitigen Bezugssystem aus verschiedenen Bedeutungen und Symbolismen. So fungiert die Esche zum einen als Weltenbaum, in dem sie die verschiedenen Welten miteinander verbindet und deren Mittelpunkt darstellt. Des Weiteren gilt Yggdrasil als Himmelsstütze, da die Zweige des Baumes germanischem Glauben nach das Himmelsgewölbe stützen und halten. Nicht nur als Weltenbaum, auch als Weltachse wurde die Weltenesche im Bedeutungshorizont der Mythologie bezeichnet und verstanden. Himmel, Mittelwelt und Unterwelt werden diesen Vorstellungen entsprechend durch Yggdrasil als Weltachse miteinander verbunden. http://www.wikingerzeit.net/kultur-der-wikinger/glaube-der-wikinger/yggdrasil.html
Anm. z. Text:
Duden sagt, ein Wesen ist …
- das Besondere, Kennzeichnende einer Sache, Erscheinung, wodurch sie sich von anderem unterscheidet
- etwas, was die Erscheinungsform eines Dinges prägt, ihr zugrunde liegt, sie [als innere allgemeine Gesetzmäßigkeit] bestimmt
- Summe der geistigen Eigenschaften, die einen Menschen auf bestimmte Weise in seinem Verhalten, in seiner Lebensweise, seiner Art, zu denken und zu fühlen und sich zu äußern, charakterisieren
- etwas, was in bestimmter Gestalt, auf bestimmte Art und Weise (oft nur gedacht, vorgestellt) existiert, in Erscheinung tritt
- Mensch (als Geschöpf, Lebewesen)