Das Eigenartige im Aikido liegt in den Polaritäten, die sich auf der Matte durch ein Aufeinandertreffen ergeben. Unglaubliche Kräfte zeigen im Kampf ihre Auswirkungen und verändern immer wieder die Sachlage: der Menschen als Pol, Energie als Pol, das Tun als Pol oder aber der gezielte Fokus. Unterschiedliche Vorzeichen, aber auch unterschiedliche Stärken finden im ersten Moment nicht zueinander und Dinge geschehen, deren Ursprung manchmal unklar bleibt.
Wo befand sich denn meine äußere Grenze der Wirksamkeit? Im Grunde begann diese an der Stelle, wo meine Hände bei gestreckten Arm aufhörten. Innerhalb dessen lag meine ganz private Zone, mein eigener Bereich, der mir niemand streitig machen durfte, auch kein Angreifer. Das war auf alle Fälle meine Wunschvorstellung oder anders gesagt: Diesen Bereich sollte ich schützen, weil ich sonst ganz privates Territorium aufgab.
Die Reichweite unserer Hände umfasste sozusagen eine Sphäre, ein eigenes Universum, dessen Zentrum in unserem Körper lag. In diesem Universum herrschten eigene Gesetze; jeder, der hier eindrang, unterlag ihnen und wurde nicht nur bildhaft gesehen von den Kreisbewegungen der Techniken wieder herauskatapultiert.
Diese Sphäre war nicht zu unterschätzen! Sie war mein Spielraum, aber auch Handlungsraum. Sollten vielleicht meine Hände durch den entgegengebrachten Impuls nah an meinen Körper gedrückt werden, ohne dass ich sofort diesen eingeengten Raum durch eine Fußbewegung korrigierte, so verschob sich der Standort des Tuns im Verhältnis zu meinem Körper. Ein unguter Winkel der Hände entzog mir in dieser Situation den Kontakt zum Zentrum meines Gegenübers. Ohne diesen Informationskanal, war das Tun meines Angreifers kaum rechtzeitig vorhersehbar. Mein eigenes Zentrum wurde blind und mein Universum verwandelte sich zur Peripherie einer fremden Welt.
So wird jeder Aikidoka bemüht sein, den notwendigen Abstand zwischen Hand und Körper zu wahren. Wie groß diese Distanz sein musste, ließ sich nur durch ein Ausprobieren erfahren. Das Verändern des Handlungsortes mit den Händen besaß immensen Einfluss auf das Ergebnis. Im übertragenden Sinne verkleinerten wir mit der Verringerung des Abstandes die mögliche Kraft, mit der wir unseren Angreifer zu Boden bringen könnten.
Wir Menschen sind nun mal so konzipiert, dass wir sehen möchten, was wir tun. All unsere Sinne fokussierten sich dann auf unsere Hände. Je enger wir die Hände führten, umso schwieriger wurde dies. Natürlich ließe sich nun sagen, naja, das ist ja nicht so schlimm. Vielleicht gibt es den einen oder anderen, der auch ganz nah, sein Tun steuern kann, sozusagen an den Körper geklebt. Doch die Kehrseite lag darin, dass unser Gegenüber es ebenso wunderbar konnte. Ein Fauststoß in die Nieren oder ins Gesicht oder in den Bauch ist dann schneller gesetzt, als einem selbst eine Drehung zur Aktion möglich sein könnte.
Sobald unsere Hände den Gegner mit leicht gebeugten Armen erreichen können, befinden wir uns am perfekten Umsetzungspunkt. Wir hatten unseren Angreifer im Blick und im Kontakt, der uns über den Körper zu seinem Zentrum führte. Die Verbindung zum Zentrum war dann der Gradmesser. Fiel ich aus diesem Kontakt heraus, stand ich in der Defensive und verlor damit auch den Kampf.
So manches Mal kam ich mir vor, als stünde ich am Rande meiner selbst gebauten Grenzen und würde mit der unfassbaren Ausdauer der Lehrer zum eigenständigen Handeln überzeugt werden. Schaue ich auf das bisher Gelernte zurück, machte es mich manchmal fassungslos, wie viel Bereiche ich mir nicht vorstellen konnte oder als blumige Ausschmückung der Geschichtsschreiber abstempelte. Unser Körper besaß ein riesiges Arsenal mit Werkzeugen, die noch eingeschweißt in ihrer Verpackung lagen.
Es wurde Zeit, sie davon zu befreien …
Trainer: Matthias Lange, 5. Dan
Trainingsort: https://aikidozentrum.com/
Anm. z. Titel: Wenn ein Angreifer dem Verteidiger genug Raum ließ, Techniken mithilfe seines Zentrums auszuführen, dann hatte er bereits verloren.
Spannend!
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Das freut mich sehr! Danke Dir!
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