Prima materia

Zum x-ten Male rutschte mir der Stab durch die Finger und fiel herunter. Die Enden des Holzes schlugen in kurzen Sequenzen auf, bis dieser eigenartige Ton des Weichen und gleichzeitig Festen im Raum verhallte, als käme etwas Lebendiges zur Ruhe. Das machte aber nichts. Ich wusste, woran es lag:

Wenn sich meine Gedanken nicht in einem Guss auf ein Gesamtbild ausbreiteten, wenn sie wie Gewichte erst in den Händen, dann bei meinem Körper, dann auf dem Stab oder sogar bei meinen Füßen herumirrten, dann entstand eine Unwucht. Etwas zerrte an meiner Stabilität, ließ sie vibrieren und strengte mich an.

Am Anfang dachte ich, es müsse so sein. Ich könnte nur eines nach dem anderen lernen; also erst die Fußfolge, den Handgriff, die Körperspannung, das tiefe Stehen, das Bewegen im Raum oder auch das Wahrnehmen meines Gegenübers, ohne sich paralysieren zu lassen.

Seufzend hob ich meinen Stab auf und schob diesen Gedanken beiseite. Das Herunterfallen begründete ich kurzerhand mit der Glätte meines Stabes, den ich immer noch nicht von dieser unschönen Klarlackierung befreit hatte. Na klar … solange irgendwelche Gründe für etwas nicht so Gelungenes herhalten konnten, ging das Innerste nicht an die wirklich herausfordernden Aufgaben, die eigentlichen wesentlich wichtiger waren, aber auch schwerer.

Der Jo forderte gänzlich andere Koordinationsfähigkeiten als das Schwert. Der Vorteil lag hier in der Austauschbarkeit der Seiten. Es war egal, wie herum ich meine Waffe hielt, Hauptsache sie war da, wohin sie sollte. Ein Agieren erfolgte dadurch viel intuitiver, jedenfalls kam es mir so vor. Die Schlichtheit war aber nur ein Schein! Sobald der Stab sein Wirbeln, sein Zustechen, sein fast Fliegen oberhalb oder unterhalb der Hände begann, offenbarten sich all die Abmaße und gedachten Unterteilungen für meine Hand.

Dass sich hinter meinen empfundenen Hürden ein weiterer Weg befand, das brauchte ich nicht vermuten, das sah ich beim Vorführen der Übungen:

Kein Ich oder Es bestimmten das Bild. Die Waffe verschmolz innerhalb des Bewegens. Mensch und Stab agierten als Einheit, deren Trennwände sich für einen Moment auflösten und damit das Tun wesentlich deutlicher in den Vordergrund schoben.

Bei mir mussten die Abfolgen der Bewegung noch wie einzelne Splitter zusammen gefügt werden. Ständig ergaben sich Zäsuren durch falsche Haltung, ungünstiges Greifen und auch einem verschobenen Schwerpunkt. Also eine Unwucht … was musste ich begradigen, damit mein Tun rund lief? Was versperrte noch den Durchgang zu diesem eindeutig vorhandenen Weg?

Ich meine nun nicht die zehntausend Übungsstunden, die unweigerlich meinen Körper von der Sinnhaftigkeit meines Bewegens überzeugen werden. Ich meine das Andere …

Ich meine das Unrunde in sich selbst. Meinen Jo betrachtend wusste ich genau, was es war, denn dieses Etwas hatte einen Namen: Skepsis! Skepsis meiner Waffe und mir selbst gegenüber. Meiner Waffe gegenüber, da sie sich noch nicht so verhielt, wie ich es wollte. Mir selbst gegenüber, da meine Hände noch nicht so griffen, wie ich es mir wünschte. Wenn ich beides aus meinem Tun entfernte, dann überzog ich die Bewegung mit einer Sicherheit, die meine Gedanken schließlich zum Ruhen bringen könnten. Wenn diese inneren Vorbehalte nicht mehr existierten, veränderte ich nicht nur meine Bewegungen mit der Waffe, ich veränderte mich auch selbst.

Jetzt musste ich über mich selbst lachen, weil mir mitten im Unterricht dazu Bilbos Worte einfielen:

It’s a dangerous business, walking out one’s front door …


Anm. z. Titel:

Prima materia oder Materia prima ist ein alter Begriff, der den Urstoff, das absolut Erste beschreibt, aus dem Dinge entstehen. In der inneren Alchemie ist es der Alchemist selbst, den es zu wandeln gilt.

„Sie wird als Materie, also etwas Körperliches aufgefasst, während wir sie heute als einen psychischen Ausgangszustand verstehen. Das hängt mit der konkretistischen Auffassung in der Alchemie zusammen. Heute verstehen wir alle Substanzen symbolisch. Der alchemistische Prozess ist ein Wandlungsvorgang, bei welchem niedere, rohe in wertvolle, gediegene Stoffe verwandelt werden. Die materia prima bezeichnet den Anfangszustand. Nach der modernen Vorstellung der Analytischen Psychologie beschreibt die Alchemie unbewusste seelische Vorgänge in chemischen Termini, weil es zu jener Zeit noch keine Tiefenpsychologie gab.“

Auszug aus: https://www.symbolonline.de/index.php?title=Materia_prima

Anm. z. Text:

Aikido, insbesondere das Arbeiten mit den Waffen, ist für mich nicht nur ein Erlernen von Fertigkeiten, sondern ein Erkennen und Schleifen der vielen Schattierungen in einem selbst. Das ist meine Definition des „Do“ (jap. Weg) …


Trainer: Matthias Lange, 5. Dan

Trainingsort: https://aikidozentrum.com/